Inklusion / 22.06.2018

Auf die Haltung kommt es an

So kann Inklusion in Grundschulen gelingen und Spaß machen

Das soziale Miteinander in der Schule spielt für eine gelungene Inklusion eine entscheidende Rolle. Nicht nur wie man unterrichtet ist wichtig, sondern auch, mit welcher Einstellung das Kollegium agiert, wie Entscheidungen getroffen werden und wie gut man das schulische Netzwerk pflegt.

Farbige Handabdrücke auf weißem Hintergrund
Bild: Shutterstock.com/7 pips

Die Herausforderungen

Grundschulen sind der Schultyp mit der größten Vielfalt. Zu Beginn ihres Schullebens lernen dort Kinder unterschiedlicher sozialer Herkunft, mit und ohne Migrationsgeschichte, mit verschiedenen Interessen und Fähigkeiten – und eben mit unterschiedlichem Förderbedarf im Fall einer körperlichen oder geistigen Behinderung.

Die UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderung, der Deutschland 2009 beigetreten ist, hebt die ohnehin vorhandenen inklusiven Ansätze in den Grundschulen auf ein noch höheres Niveau. Denn das gemeinsame Lernen von Kindern mit und ohne Behinderung wird zum Regelfall, in immer weniger Ausnahmen werden Kinder an gesonderte Förderschulen verwiesen. Die UN-Konvention schrieb ausdrücklich fest: Gesellschaftliche Teilhabe ist ein Menschenrecht. Bezogen auf das Schulsystem heißt das konkret: Kinder mit Behinderungen sollen nicht mehr vom regulären Unterricht an Grundschulen und weiterführenden Schulen ausgeschlossen werden. 

Für Lehrkräfte und Schulleiter/-innen bringt das viele Herausforderungen mit sich – und viele Chancen. Inzwischen gibt es bundesweit zahlreiche gute Beispiele und Modellprojekte für die Inklusion in Grundschulen. Und in Monitorings und Evaluierungen arbeiten Experten heraus, welche pädagogischen Ansätze und Konzepte sich als erfolgreich erweisen und worauf es dabei ankommt.

Die Erwartungen – was Lehrkräfte leisten sollen

Die Herausforderungen an die Lehrinnen und Lehrer sind groß. Um auf alle Schüler/-innen einer Klasse entsprechend ihren Fähigkeiten so gut wie möglich einzugehen, müssen individuelle Lernziele erkannt und vereinbart werden, zudem braucht es die Methoden differenzierenden Unterrichtens. 

Zwar werden Lehrkräfte an allgemeinen Schulen zunehmend von sonderpädagogischen Fachkräften, von Schulhelfern und Schulsozialarbeitern unterstützt, doch ohne eigenes Engagement und Weiterbildung geht es nicht. Eine gute Zusammenarbeit im Team, genügend Informations- und Vorbereitungszeit und ein Schulkonzept, das alle einbezieht – ohne das geht es nicht, wenn Inklusion gelingen soll.

Sorgen und Zweifel ernst nehmen

Lehrkräfte ohne integrative Praxiserfahrung vermuten häufig, dass die Verwirklichung der Inklusion für sie eine neue pädagogische Herausforderung darstellt, die ihre bisherigen methodisch-didaktischen Kompetenzen überschreitet. Diese Bedenken ernst zu nehmen, bedeutet vor allem, umfassende Fortbildungen für die Lehrkräfte darüber anzubieten, was die integrationspädagogische Praxis, aber auch die allgemeine Unterrichtsforschung an Erkenntnissen über guten Unterricht erarbeitet hat. Guter Unterricht meint dabei, dass alle Schülerinnen und Schüler einer Lerngruppe optimale Lernergebnisse in einem sozial befriedigenden Lernklima erreichen.

Einige Kinder lernen schnell, andere langsam. Einigen Kindern fällt es leicht, sich in die Klassengemeinschaft zu integrieren, anderen schwer. Manche Kinder sind passiv oder schüchtern, andere impulsiv oder „aufsässig“. Immer noch geistern Mythen durch die Köpfe von Pädagoginnen und Pädagogen, die wissenschaftlich bereits überholt sind: 

  • „Inklusion bremst die Leistungsstärkeren.“
  • „In homogenen Gruppen lernen Kinder besser.“
  • „Behinderte Kinder gehen an Regelschulen unter und bekommen nicht die nötige Aufmerksamkeit.“

Es ist verständlich, dass bei Lehrkräften Sorgen, Zweifel und Fragen entstehen: Wie sollen wir jedem einzelnen Kind in dieser Vielfalt gerecht werden? Wie können insbesondere Schülerinnen und Schüler mit dem Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung positiv in der allgemeinen Schule aufgenommen werden? 

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Drei Komponenten für gelungene Inklusion

"Jeder hier ist einzigartig und das ist ein Glück!" Mit diesem Satz begrüßt die Bonner Kettelerschule, eine inklusive Gemeinschaftsgrundschule, die Besucher ihrer Webseite. Dazu winken viele Kinder auf einem großformatigen, bunten Bild: mit verschiedenen Hautfarben, mit und ohne besonderen Förderbedarf, mit vielen unterschiedlichen Talenten. An der Kettelerschule, die für ihr Engagement und ihre Erfolge bei der Inklusion mit dem renommierten Jakob-Muth-Preis ausgezeichnet wurde, haben Lehrkräfte und Schulleitung inzwischen viele praktische Erfahrungen gemacht, was zu einer gelungenen Inklusion beiträgt. 

Drei Komponenten gehören für das Bonner Kollegium unbedingt dazu:

  1. Eine gemeinsame positive Haltung zur Inklusion: Sie ist das Rückgrat einer guten inklusiven Schule: eine positive, wohlmeinende Haltung zur Inklusion. Wer sie grundsätzlich bejaht, wer mehr Chancen als Probleme sieht und anpackt, statt abzuwägen, wird nicht nur mehr Erfolg in seiner inklusiven Arbeit haben, sondern auch viel mehr Freude dabei. Umso besser, wenn nicht nur jeder Einzelne für sich eine positive Haltung pflegt, sondern wenn sie von der ganzen Schule gelebt und kommuniziert wird. Davon sind die Schulleitung und das Kollegium der Kettelerschule fest überzeugt.
     
  2. Das Einbeziehen vieler Akteure – vom Hausmeister bis zum Schulsozialarbeiter: Inklusion wird besser, je mehr unterschiedliche Talente mitwirken und je besser alle Beteiligten eingebunden sind. Das gilt natürlich nicht nur für die Lehrkräfte und Schulleiter/-innen, sondern für das große Netzwerk in und rund um die Schule. Angefangen beim Hausmeister bis zur Logopädin im direkten Umfeld, um nur zwei Beispiele zu nennen, die nicht sofort auf der Hand liegen. In sogenannten Inklusionsgruppen sollten die wichtigsten Akteure regelmäßig und eng zusammenarbeiten.
     
  3. Intensives und regelmäßiges Kommunizieren: Nicht nur, um sich gegenseitig zu informieren und auf dem Laufenden zu halten, ist ein gutes Kommunikationsnetz unabdingbar. Es geht auch darum, Erfahrungen auszutauschen, Rat zu suchen und zu geben, Missverständnisse aus dem Weg zu räumen und unterschiedliche Sichtweisen in den Schulalltag zu integrieren, ohne dass es zu Konflikten kommt.

Einfach anfangen? Ja!

Nicht zuletzt braucht es aber auch den Willen und den Mut, einfach anzufangen. Die Inklusion in Grundschulen ist kein Projekt, das in einem vorbestimmten Zeitraum systematisch abgearbeitet werden kann oder muss. Sie ist ein fortwährender Prozess, der im Alltag gelebt wird und aus vielen kleinen Schritten besteht, die großen Spaß machen können.

„Alle Kinder sollen sich in der Schule wohlfühlen.“ „Wir wollen kein Kind zurücklassen.“ – So und ähnlich lauten die Leitsätze, wenn inklusive Schulentwicklung diskutiert wird. Dabei sind dies doch eigentlich keine bahnbrechend neuen Ziele. Alle Lehrkräfte wollen gute Lehrkräfte sein – und kein Kind zurücklassen. Alle haben auch das Ziel, für jedes Kind das Richtige zu tun.

Für Grundschulen ist die Inklusion nicht nur eine Herausforderung, sondern auch eine Chance: Wer anfängt, Schulen für die besonderen Lernbedürfnisse von Kindern mit Handicap zu ertüchtigen, wird schnell feststellen, dass das bisherige System Schule auch viele andere Kinder zurückließ. Die inklusive Grundschule, die Kinder in ihren individuellen Lernwegen bestärkt und besondere Lernbedürfnisse im Blick hat, schafft zum Beispiel auch für Kinder aus Zuwandererfamilien oder bildungsfernen Milieus bessere Lernbedingungen.

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"Viele kleine Bausteine führen zum Erfolg" – ein Gespräch mit der Sonderpädagogin Ute Hennig

Wie man zusammenarbeitet und wie stark das schulische Netzwerk ist – diese Aspekte sind für die gelungene Inklusion ebenso wichtig wie gute pädagogische Konzepte. Ute Hennig arbeitet als Sonderpädagogin an der Kettelerschule in Bonn und an anderen Schulen und hat gemeinsam mit Mark Winter das Buch "99 Tipps für die Grundschule: Inklusion umsetzen" geschrieben.

Frau Hennig, welches sind die besonderen Anforderungen an die Inklusion in Grundschulen? Mit anderen Worten: Warum haben sie ein eigenes Buch verdient? 

Ute Hennig: Die inklusive Schule ist ein pädagogisches Konzept, das es auf jeder Stufe umzusetzen gilt, von der Grundschule bis zur weiterführenden Schule. Wir wollen auf Basis unserer praktischen Erfahrungen in der Grundschule allen Mut machen, sich auf den Weg zur inklusiven Schule zu machen. In der öffentlichen Diskussion über Inklusion geht es oft darum, was nicht geht. Wir wollen eine andere Perspektive aufzeigen, wie viele kleine Bausteine zusammen zum Erfolg führen können. Vieles gilt nicht nur für Grundschulen, sondern lässt sich auch auf weiterführende Schulen übertragen.

Ihr Buch umfasst 99 Empfehlungen. Welches davon sind die Empfehlungen, die Ihnen ganz persönlich wichtig sind? 

Ute Hennig: Der Index für Inklusion hat sich für unsere Schule als ein sehr gutes Instrument erwiesen, um unser Konzept weiterzuentwickeln. Wir haben den Index als Orientierung genutzt, sozusagen als den "roten Faden", und haben so unser Profil als inklusive Schule Schritt für Schritt ausgebaut. Außerdem ist es meiner Erfahrung nach ganz wichtig, alle Akteure einzubeziehen und auf allen Ebenen im Team zusammenzuarbeiten. Denn Inklusion gelingt nur gemeinsam. Deshalb sollten alle mitwirken, vom Hausmeister über die Schulleitung bis zu den Eltern. Das gehört zu einer demokratischen, inklusiven Schule dazu. Auch wenn es mitnichten immer einfach ist.

Welche pädagogischen Fähigkeiten mussten Sie sich neu erarbeiten, um erfolgreich in inklusiven Schulen zu arbeiten? 

Ute Hennig: Den Unterricht so zu gestalten, dass wirklich alle Kinder teilhaben, das ist für mich eine Aufgabe, an der ich weiterhin ständig arbeite. Dafür die geeigneten pädagogischen Methoden einzusetzen, war nicht Teil meines Studiums. Diese Kenntnisse entwickle ich vielmehr im Laufe meiner praktischen Tätigkeit immer weiter. Ein weiterer Punkt ist die Teamarbeit: Hier braucht es gute Fähigkeiten, um sich mit Kollegen auszutauschen, mit anderen Lehrkräften, aber auch mit Therapeuten, Schulassistenten und anderen Professionen. Denn eine gute, verlässliche Teamarbeit ist der Dreh- und Angelpunkt, damit die Inklusion vorankommt.

Was treibt Sie persönlich an, sich so für die Inklusion zu engagieren? 

Ute Hennig: Die Inklusion hat mich schon während meines Studiums beschäftigt, das ist jetzt rund 30 Jahre her. Damals machte unter anderem die "Krüppelbewegung" auf die Benachteiligung behinderter Menschen aufmerksam, was mich sehr bewegt hat. Aktuell beobachte ich, dass viele Kinder mit Förderbedarf aus sozial benachteiligten Familien kommen. Sie in getrennten Schulen "auszusondern" ist absurd. Für mich hat das auch eine gesellschaftliche Dimension. Ich möchte in einer Gesellschaft leben, in der alle Menschen teilhaben können.

Mehr Informationen zum Thema Inklusion in Grundschulen erhalten Sie hier.

Fortbildungen der Cornelsen Akademie 

Lernen und Lehren an inklusiven Schulen (SchiLf)
Sie erarbeiten gemeinsam Vorstellungen von den Herausforderungen inklusiven Unterrichts – und entwickeln basierend darauf ein optimistisches Bild, was an Ihrer Schule machbar ist.   

Inklusion erfolgreich auf den Weg bringen (SchiLf)
Sie erhalten im Baukastensystem eine umfassende Unterstützung auf dem Weg zur inklusiven Schule, so dass Ihre Einrichtung schrittweise eine Schule für alle Kinder wird.  

Inklusion in der Schule – systematische Reflexion (SchiLf)
Sie überprüfen und ggfs. aktualisieren Ihr Wissen zum aktuellen Stand der Diskussion um Inklusion. Sie tauschen sich grundlegend im Kollegium darüber aus, ob sich im praktischen Handeln ein gemeinsames Verständnis der komplexen Idee von Inklusion entwickelt hat oder ob es eher um den kollegialen Umgang mit Differenzen gehen muss. 

Vielfalt nutzen – Differenzieren im Unterricht
Sie erfahren, wie Sie durch Verfeinerung, Abstufung und Aufteilung der Lerninhalte auch bei unterschiedlichen Begabungen und sozialen Einbettungen sowie spezifischen Lernbedürfnissen differenzieren können.

Schlagworte:

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