Größte bildungspolitische Aufgabe: Individuelle Förderung

Interview mit dem Bildungsforscher Klaus Hurrelmann

Wie behalten Lehrkräfte einen genauen Überblick über das Lernniveau jedes einzelnen Klassenmitglieds – insbesondere in großen Klassen, die ja nun mal keine Seltenheit sind? Geht das überhaupt? Ja, sagt  Klaus Hurrelmann – mit den passenden Analysetools und einer veränderten Schule.  

Porträt von Klaus Hurrelmann
Bild: Prof. em. Klaus Hurrelmann

Herr Prof. Dr. Hurrelmann, können alle Kinder und Jugendliche in großen Klassen individuell gefördert werden? 
In großen Klassen lernen sehr leistungsschwache, mittelgute und sehr leistungsstarke Schülerinnen und Schüler zusammen. Als Lehrkraft werde ich zwangsläufig die Kinder und Jugendlichen mit der mittleren Leistungsfähigkeit ansprechen. Das heißt: Eine gezielte Anregung für die sehr Starken und die sehr Schwachen bleibt aus. 

Welche Konsequenzen hat das für die Betreffenden?
Diejenigen, die nicht in dieser mittleren Range sind - und das sind in jeder Schulklasse natürlich mindestens 20 bis 30 Prozent - bekommen nicht die richtigen Impulse. Sie verlieren ihre Motivation. Sie fallen ab oder fangen an, den Unterricht zu stören, weil sie sich nicht mehr als Teil der Lerngemeinschaft fühlen. 

Gibt es einen Ausweg aus diesem Dilemma?
Was wir ganz dringend brauchen sind sehr flexible, von den Schülerinnen und Schülern gern akzeptierte Leistungsmessungen. Was kann ich, was kann ich nicht? Wo sind meine Potenziale? Das kann spielerisch sein, das sollte digital sein, weil das für Schülerinnen und Schüler einen ganz besonderen Reiz hat. Und für eine Lehrkraft ist das natürlich wunderbar. Sie bekommt ganz genaue Informationen: Der Schüler A steht dort, die Schülerin B steht da, ein genaues Lern- und Leistungsprofil also. Das ist die Voraussetzung dafür, dass sie passgenaue Impulse geben kann. 

Das heißt also, mit den passenden Instrumenten könnten die Lehrkräfte dieses Problem angehen. Kann auch die Schule insgesamt etwas dazu beitragen? 
Voraussetzung für das Gelingen dieser individuellen Förderung ist ein anderes Verhältnis zwischen der Lehrkraft und den Schülerinnen und Schülern, weg vom unterrichtenden, belehrenden Lehrer und hin zu einer Begleitperson, zu einem begleitenden, trainierenden Coach. Dieser Prozess muss durch den ganzen schulischen Kontext gestützt werden, etwa durch mehr Freiräume und mehr selbständiges Arbeiten der Schülerinnen und Schüler. Dafür brauchen wir auch die entsprechenden Räumlichkeiten und auch anderes Personal - also viele andere Gruppen und Berufe. Und im Idealfall wird die Schule zu einem Bildungscampus, der bis in die Kommune, bis ins Stadtviertel hinein mitwirkt. Und von dort aus auch wieder viele Impulse aufnimmt. 

Das ist eine schöne Vision. Ist sie realistisch? 
Wir haben schon heute Schulen, die das schaffen, auch staatliche Schulen. Das ist das Faszinierende: Zehn Prozent vielleicht sogar 15 Prozent der Schulen in Deutschland schaffen es aus eigener Kraft, solche Ansätze zu verwirklichen. Und es wäre wunderbar, wenn wir diese Zahl verdoppeln und verdreifachen könnten. Und wenn diese Schulen zu Leuchtturmschulen werden könnten, die dann andere Schulen anstecken und ihre Arbeitsformen übertragen. 

Zur Person: Prof. Dr. Klaus Hurrelmann war Professor an der Fakultät für Erziehungswissenschaft an der Universität Bielefeld. Seit 2009 ist er Senior Professor an der Hertie School in Berlin. Er gehört zu den bekanntesten Kindheits- und Jugendforschern in Deutschland und fordert schon lange mehr individuelle Förderung. 

Cornelsen Diagnose und Fördern
Mit dem Online-Tool Diagnose und Fördern kann der Lernstand der Schülerinnen und Schüler ohne großen Zeitaufwand überprüft werden. Nach der Lernstandsanalyse werden für die einzelnen Schülerinnen und Schülern passgenaue Fördermaterialien zusammengestellt, mit denen sie Lücken selbstständig schließen können. Leistungsstärkere werden mit vertiefenden Inhalten individuell gefördert. Für viele Cornelsen-Lehrwerke gibt es auch Diagnosen passend zum Schulbuch. 


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