Gesprächsführung / 22.06.2018

Rechtzeitig die Kurve kriegen

Lehrkräfte, die Schulschwänzer früh ansprechen, haben gute Erfolgschancen

Schüler/-innen, die schwänzen, gibt es an jeder Schule. Nicht immer wird gern darüber geredet. Aber Lehrkräfte, die schon bei den ersten Warnsignalen eingreifen, wenn Schüler/-innen sich zurückziehen, haben die besten Karten. Dank eines Förderprogramms gibt es auch ein gutes Netzwerk fachkundiger Helfer.

Jugendlicher mit Kapuze vor einem Graffiti
Bild: stock.adobe.com/alexkich

Heidi Goretzki hat dem zwölfjährigen Steffen* ein Angebot gemacht, das er nicht ablehnen konnte: Wenn er jeden Morgen pünktlich in der Schule ist, dann spielen sie erst mal zusammen eine Runde "Das verrückte Labyrinth". Anschließend entscheiden sie gemeinsam, ob er zum Unterricht bleibt oder doch wieder nach Hause geht. Gleich beim allerersten Mal hat der Junge die Freikarte für einen Tag zu Hause gezogen und ist gegangen – "das musste sein, damit er weiß, er kann mir vertrauen", sagt Heidi Goretzki.

Dass es bei dem einen Mal geblieben ist und er danach immer ins Klassenzimmer gegangen ist, macht die Sozialpädagogin stolz. Im vorigen Schuljahr wurde sein Durchhalten mit dem erfolgreichen Abschluss der neunten Klasse belohnt. Vor der ersten Labyrinth-Runde war das in weiter Ferne, denn Steffen hat regelmäßig die schwierigsten Tage in der Woche mit acht Unterrichtsstunden geschwänzt. Mal hatte er Kopfschmerzen, ein anderes Mal ging es ihm nicht gut, eine Erklärung war immer parat. 

* Name geändert

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Jeder vierte Schüler hat schon mal geschwänzt

Jeder vierte Schüler in Deutschland gab 2012 in einer Umfrage der Bildungsforscherin Christine Sälzer von der Technischen Universität München an, schon mindestens einmal im Schuljahr eine Unterrichtsstunde geschwänzt zu haben. Daran, dass aus gelegentlichem Schulschwänzen keine Schulverweigerung wird, arbeiten Heidi Goretzki und ihre Kolleginnen und Kollegen. Die Sozialpädagogin hat bis zum Ende des europäischen Förderprogramms "Schulverweigerung – Die zweite Chance" im Sommer 2014 ein Projekt gegen Schulverweigerung in Weimar geleitet.

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Förderprogramm bringt „zweite Chancen“

Über das Thema Schulschwänzen wurde lange kaum gesprochen. Verlässliche Zahlen, wie groß das Problem hierzulande ist, gibt es auch heute nur wenige. Rund 7,5 Prozent eines Jahrgangs verlassen die Schule ohne Abschluss. Sie fangen an, die Schule zu schwänzen, verweigern sich, aber bevor sie gar keine Aussicht mehr auf Erreichen des Abschlusses haben, ist Zeit, sie aufzufangen.

Familienklassen oder eine sozialpädagogische Einzelbetreuung sind gute Wege, genau das zu tun. Mit dem Förderprogramm "Die zweite Chance" wurden erstmals in großem Stil Projekte zur Hilfe von Schulverweigerern unterstützt, rund 17.000 Schüler in Deutschland begleitet. In Weimar seien anfangs nur drei Schulen dabei gewesen, die anderen seien zunächst skeptisch gewesen, erzählt Heidi Goretzki. Aber nach und nach kamen alle an Bord. "Das Thema Schulverweigerung hat Salonfähigkeit erlangt", fasst die Wissenschaftlerin Christine Sälzer die bundesweiten Erfahrungen zusammen. Die Sensibilität ist gestiegen, es wird offener diskutiert und mehr geholfen.

Viele Projekte werden nicht weitergeführt

Die "Zweite Chance" endete im Sommer 2014, manche Projekte gehen weiter, viele werden nicht mehr finanziert. Zwar werde es eine neue Förderphase bis 2020 geben, in der von den insgesamt 190 Millionen Euro auch ein Teil in Schulverweigerungsprojekte fließen soll, so eine Sprecherin des Bundesfamilienministeriums. Doch daran sind neue Bedingungen geknüpft, sodass sich Kommunen neu bewerben müssen und auch erfolgreiche Projekte nicht automatisch weiter unterstützt werden.

Heidi Goretzki und die Weimarer Schülerinnen und Schüler haben Glück: Das Land Thüringen stellt eine weitere Finanzierung im Rahmen der Schulsozialarbeit bereit. Goretzki arbeitet nun als Schulsozialarbeiterin an der Parkschule Weimar und hat neben anderen Aufgaben das Thema Schulschwänzen weiterhin fest im Blick.

Ausgiebig mit den Schüler/-innen die Gründe erforschen

Ihre Erfahrungen gibt sie gern weiter. Zuallererst: Sich die Zeit zu nehmen, ausführlich zusammen mit den Schülerinnen und Schülern die Ursachen zu ergründen, warum sie schwänzen, das hat sich für Goretzki und ihre Kolleg/-innen sehr bewährt. Auch wenn das bis zu vier Wochen dauern kann, lohne sich diese intensive Zeit. Sie hat dabei die Erfahrung gemacht, dass Überforderung einer der häufigsten Gründe ist, warum Schüler schwänzen oder sich schließlich ganz der Schule verweigern. Auch Vernachlässigung durch die Eltern sei ein Grund. "Und das hat nichts mit der gesellschaftlichen Schicht zu tun", sagt sie. "Auch in gut situierten Elternhäusern kommt es vor, dass die Kinder zwar materiell gut versorgt sind, aber ansonsten sich selbst überlassen sind."

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Manchmal geht es schon in der Grundschule los

Oft schleiche sich das Schwänzen erst nach und nach ein, manchmal kämen schon in der Grundschule zehn bis 30 Fehltage im Schuljahr zusammen. Und wenn im Grundschulzeugnis wiederholt stehe, "hat Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren", oder "sollte sich bemühen, mit mehr Ausdauer zu arbeiten", dann könnten auch das erste Warnsignale sein, die man ernst nehmen sollte. Es mag verschiedene Gründe geben, warum die Lehrer/-innen an diesen Punkten nicht hellhörig werden. In den seltensten Fällen ist es eine "Phase, die sich verwächst". 

Rechtzeitig fachkundige Hilfe hinzuzuziehen, sei kein Zeichen des Scheiterns oder übertriebene Motivation. Im Gegenteil. "Frühzeitiges Abklären des individuellen Leistungsvermögens der Kinder bewahrt sie vor einem falsch eingeschlagenen Weg in ihrer Schullaufbahn." Heidi Goretzki wünscht sich, dass ein falscher Gedanke aus den Köpfen mancher Lehrer restlos verschwindet: "Schüler, die schwänzen, machen das nicht aus böser Absicht, das sollte man ihnen nicht unterstellen. Sondern sie machen es, weil sie ein ernstes Problem haben – das gilt es aufzufangen."

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Reden, reden, reden

Frank Eiseler ist es nicht so gut ergangen, sein Projekt geht nicht weiter, auch wenn er viel bewirkt hat. Der Sozialpädagoge hat sich im brandenburgischen Bad Freienwalde um Jugendliche gekümmert, die dabei waren, in die Schulverweigerung abzurutschen. "Ich arbeite gar nicht, ich rede nur", sagt er verschmitzt und meint damit die vielen Gespräche, die er mit den Jugendlichen selbst, mit ihren Eltern, Freunden und Bekannten geführt hat. "Gar nicht stundenlang, dann verlieren sie sowieso die Geduld, dafür regelmäßig."

Manchmal redete Eiseler während seiner offiziellen Sprechzeiten in der Schule, oft aber auch bei den Eltern zu Hause, am Sportplatz oder in der Eisdiele. Die Distanz zur Institution Schule helfe häufig, offener zu reden. "Jugendliche sehen in ihrem sozialen Umfeld, dass man sich mit Hartz IV einrichten kann, auch ohne Schulabschluss", sagt Eiseler. "Auf der anderen Seite werden Normen und Ziele im Familien- und Freundeskreis nicht vorgelebt."

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Die Eltern einbinden

Direkt im Elternhaus setzt Doris Drümmer an. Sie hat als eine der Pioniere in Deutschland die "Familienklasse" in Bremen eingeführt. Ohne eine systemische Sicht, die die Eltern mit einbeziehe, sei es kaum möglich, Kindern und Jugendlichen zu helfen, die der Schule mit wachsender Distanz begegnen. Eine begrenzte Zeit lang holt sie die Schülerinnen und Schüler deshalb einen Tag in der Woche gemeinsam mit Vater oder Mutter in einen Klassenraum, betreut werden die kleinen Gruppen von einem Sozialpädagogen. Vorab vereinbarte Ziele, etwa sich konzentriert den Schulaufgaben bis zum Ende zu widmen, sollen so erreicht werden. Je nach Bedarf helfen die Eltern ganz aktiv oder ziehen sich in einen Nebenraum zurück, signalisieren aber immer: Ich bin da, wenn du mich brauchst, und mir ist dein schulischer Erfolg wichtig.

So früh wie möglich eingreifen

Zwei Aspekte haben alle Projekte gemeinsam. Erstens: Ohne Netzwerk geht es nicht, Einzelkämpfer haben es schwer. Die Kontakte zwischen Schulen, Jugendhilfe, Ärzten und Psychologen, aber auch dem Jugend- und Schulamt zu pflegen, das ist wichtig. Und zweitens: Alle wünschen sich, dass die Lehrer, die am dichtesten an den Schülern dran sind, sehr früh das Gespräch suchen – schon wenn der erste Verdacht aufkeimt, dass ein Schüler Gefallen am Schulschwänzen findet. 


* Name geändert

Fortbildungen der Cornelsen Akademie 

Schulverweigerung und Schuldistanz - Gemeinsame Verantwortung (SchiLf)
Sie lernen verbreitete Hintergründe von Schulverweigerung kennen sowie psychologsich unterfütterte Strategien und Hilfen, um die Schüler/-innen an der Schule zu halten.   

Elterngespräche professionell führen (SchiLf)
Ein intensives Gesprächstraining befähigt Sie und Ihr Kollegium, professionelle Elterngespräche in sachlicher und vertrauensbildender Atmosphäre ziel- und ergebnisorientiert zu führen.

Schwierige Schüler/-innen – schwierige Eltern (SchiLf)
Sie lernen, kritische Situationen aus dem Blickwinkel der Schüler/-innen zu betrachten und belastende Auseinandersetzungen mit ihnen ‒ und ihren Eltern ‒ deutlich abzukürzen. Sie erfahren, welche psychologischen Mechanismen wirksam sind, damit schwierige Schüler/-innen sich an die Regeln halten und deren Eltern dies unterstützen.    

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