Warum das Churermodell allen Schülerinnen und Schülern gerecht werden will
„Ich kann die Kinder viel individueller begleiten“
Kinder verbringen einen großen Teil ihres Tages in der Schule – Lehrkräfte ebenfalls. Sollten Schulen daher nicht nur Lernorte, sondern auch Lebensorte sein? Genau das verspricht das Churermodell. Ausgangspunkt ist ein neu gestalteter Klassenraum, in dem es keinen Frontalunterricht mehr gibt. Hinzu kommen Elemente wie der Inputkreis, die freie Wahl des Arbeitsplatzes und das kooperative Lernen. Reto Thöny, der das Churermodell entwickelt hat, erklärt im Gespräch, warum und wie Kinder und Lehrkräfte von diesem Modell profitieren können.

Herr Thöny, Sie sind der Vater des Churermodells. Wie kam es dazu?
Reto Thöny: Das hängt mit meiner letzten Tätigkeit vor der Pensionierung zusammen. Ich war pädagogischer Leiter der Stadtschule Chur, einer Schule mit etwas über 3000 Schülerinnen und Schülern vom Kindergarten bis zur Sekundarstufe I. Bei meinen Besuchen im Kindergarten habe ich immer wieder beobachtet, wie kompetent sich die Kinder in diesen Strukturen bewegen – und wie mit der Einschulung plötzlich alles anders wird. Ich dachte mir: Es müsste für die Kinder einfacher sein, wenn wir die Struktur des Kindergartens auf die Schule übertragen und an das schulische Lernen anpassen würden. Daraus entstand das Churermodell.
Der Ausstieg aus dem frontalen Setting
Der zentrale Punkt ist die Raumgestaltung oder ist das nur einer von mehreren?
Reto Thöny: Die Raumgestaltung ist tatsächlich das zentrale Element des Churermodells. Es geht darum, dem Lernen Raum zu geben. Das Umstellen des Schulzimmers führt weg vom frontalen Setting – ohne jedoch auf direkte Instruktion zu verzichten. Diese findet im Inputkreis statt und ist zeitlich begrenzt, damit die Schülerinnen und Schüler mehr aktive Lernzeit erhalten.
Wie sieht diese Raumgestaltung konkret aus?
Die Schülertische sind nicht mehr zur Wandtafel ausgerichtet. Stattdessen entstehen im Klassenzimmer unterschiedliche Lernorte, ähnlich einem Grossraumbüro. Einige Lernorte sind nach außen, zur Wand oder Fensterfront, gerichtet und bieten Schutz vor Ablenkung. Inputs finden im Kreis statt; jedes Kind hat dort einen festen Platz. Ein weiteres Element ist der frei zugängliche Beratungstisch. Finden keine Lernberatungen statt, dürfen die Kinder auch dort arbeiten. Um genügend Bewegungsfläche zu schaffen, gibt es weniger Schülertische als Kinder in der Klasse. Ergänzt durch alternative Arbeitsplätze stehen jedoch insgesamt deutlich mehr Lernorte zur Verfügung. Lehrpersonen, die in kleinen Schulzimmern unterrichten, entfernen häufig ihr eigenes Pult und gewinnen so mindestens sechs Quadratmeter – sie arbeiten dann am Beratungstisch.
Der Vorteil dieser Raumgestaltung liegt darin, individuelle Lösungen für unterschiedliche Bedürfnisse zu ermöglichen – etwa für Kinder mit Asperger-Spektrum oder ADHS. Das Schulzimmer wird zum Lebensraum, in dem sich Schülerinnen, Schüler und Lehrpersonen wohlfühlen.
Der Raum ist also das zentrale Element, welche Elemente kommen noch dazu?
Reto Thöny: Zentral sind auch das Lernen mit Lernaufgaben sowie die verstärkte Partizipation der Schülerinnen und Schüler an ihrem Lernprozess.
„Die Kinder wählen jene Aufgaben, die sie sich zutrauen“
Welche Funktion hat der Inputkreis?
Reto Thöny: Jede Unterrichtsstunde beginnt mit einem Input im Kreis. Dafür stellt die Lehrperson passende Lernaufgaben auf unterschiedlichen Anspruchsniveaus bereit. Die Kinder wählen daraus jene Aufgaben, die sie sich zutrauen – begleitet durch die Lehrperson. Während einige an Grundkompetenzen arbeiten, bearbeiten andere potenzialorientiert erweiterte Aufgabenstellungen. Erreichbare Lernziele ermöglichen Lernerfolge für alle. Sobald sich ein Kind für eine Aufgabe entschieden hat, wählt es den Lernort und auch den Lernpartner. Die Lehrperson begleitet diesen Prozess und greift bei Bedarf unterstützend ein.
Damit werden Sie allen Kindern gerecht?
Reto Thöny: Einige kommen mit dieser Öffnung sehr gut zurecht, andere benötigen mehr Führung und Begleitung, um ihre Selbstorganisation und Selbststeuerung schrittweise zu verbessern.
Gelassenheit und Präsenz
Die Lehrkraft sollte also ständig alle Kinder im Blick haben?
Reto Thöny: Es ist wichtig, den Überblick zu behalten. Tatsächlich wissen wir im Churermodell oft besser als im klassischen Unterricht, wo jedes Kind im Lernen steht – auch wenn das zunächst überraschend klingt. Wenn die Lehrperson Lernaufgaben auswählt, denkt sie bereits im Voraus daran, wie die einzelnen Kinder reagieren könnten. Im Inputkreis macht sie transparent, welche Grundanforderungen gelten und welche Kompetenzen nötig sind, bevor man sich erweiterten Aufgaben zuwendet. Grundanforderungen sind Kompetenzen, die möglichst alle erreichen sollen. Im Verlauf eines Schultages erkennt die Lehrperson mehrfach, wie sich die Kinder zum Lernangebot verhalten und welche Lernwege sie wählen.
Und wie sieht es mit der Leistungsbewertung aus?
Reto Thöny: Die Schülerinnen und Schüler erstellen Lernnachweise, die in einem persönlichen Lernportfolio gesammelt werden. Aussagekräftige Lernnachweise zeigen, wo das Kind im Lernen steht; sie bilden die Grundlage für Leistungsaussagen. Lernproben ergänzen das Bild ebenso wie Beobachtungen zum Lernverhalten. Eine gute Rückmeldekultur erfordert Vertrauen zwischen Schule und Elternhaus. Viele Lehrpersonen berichten, dass sie mit Eltern weniger über Noten sprechen, sondern darüber, wie es dem Kind geht, wo es im Lernen steht und wie der weitere Lernweg aussehen könnte.
Ein Argument von Kritikern ihres Modells könnte sein, dass die Schwachen dabei untergehen, weil sie mit dieser Lernsituation gar nicht umgehen können.
Reto Thöny: Das Churermodell schafft Möglichkeiten, unterschiedlichen Bedürfnissen «gerechter» zu werden. Wer einen festen Lernort benötigt, bekommt ihn. Einige Kinder brauchen wenig Erklärungen, andere bleiben länger im Inputkreis oder starten gemeinsam mit der Lehrperson am Beratungstisch. Wichtig ist auch das Lernen miteinander und voneinander. Die Lehrperson ist nicht mehr die einzige Ressource im Raum. Mit der Aufforderung „Ask three, then me“ wird der „First-Level-Support“ unter den Kindern aktiviert – dadurch gewinnen Lehrpersonen Zeit, gezielt einzelne Kinder zu begleiten.
„Das Churermodell kann entlasten“
Was bringt das Churermodell den Lehrkräften?
Reto Thöny: Viele Lehrpersonen sagen: „Zurück möchte ich nicht.“ Das Churermodell kann entlasten, weil es einen neuen Blick auf Differenzierung ermöglicht. Im traditionellen Unterricht wird häufig über Arbeitsblätter differenziert – mehr Differenzierung bedeutet dann mehr Arbeitsblätter. Der neue Blick ermöglicht es, aus einem Arbeitsblatt unterschiedliche Lernaufgaben abzuleiten, ohne ein neues Blatt zu erstellen. Eine einfache Form der Öffnung ist die „Didaktik des weißen Blattes“: Das Kind stellt sich selbst passende Aufgaben. Bestehende Materialien können ebenfalls einbezogen werden. Differenzierung wird zu einer kreativen Tätigkeit – mit wenig Aufwand entstehen neue Lernaufgaben.
Geübt wird also weiterhin?
Reto Thöny: Üben ist zentral – idealerweise in authentischen Lernsituationen. Das Kind muss verstehen: „Ich übe das jetzt, weil ich es besser können will.“ Anschliessend fragen wir: „Was kannst du jetzt mehr? Wofür kannst du das nutzen?“ Lehrpersonen brauchen daher diagnostische Kompetenzen: Wo steht dieses Kind, wie verläuft sein Lernprozess, und was ist der nächste Schritt?
„Einfach beginnen“
Ist dieses Modell eigentlich nur für die Grundschule geeignet?
Reto Thöny: Inzwischen wird das Churermodell auch in der Sekundarstufe I umgesetzt. Vielleicht ist dies sogar der späteste Zeitpunkt, um Lernende an ihrem Lernen zu partizipieren. Gefragt sind Kompetenzen, die später im Studium oder Beruf zentral sind: die 4K – kritisches Denken, Kreativität, Kommunikation und Kooperation. Damit das Modell auf der Sekundarstufe I funktioniert, braucht es Lehrpersonen mit einem eigenen Schulzimmer oder solche, die bereit sind, Räume über das eigene Klassenzimmer hinaus mitzudenken – etwa Inputräume, Bereiche für gemeinsames Lernen oder Rückzugsorte fürs „Studium“.
Wenn ich als Lehrkraft von ihrem Modell überzeugt bin, wie kann ich damit anfangen?
Reto Thöny: Das Churermodell braucht nicht zwingend das Commitment eines ganzen Teams. Wenn eine Lehrperson das Modell umsetzen möchte und Rückhalt der Schulleitung hat, kann sie mit der Umgestaltung des Schulzimmers beginnen. Danach wird der Unterricht Schritt für Schritt angepasst. Online-Weiterbildungen können zusätzliche Sicherheit geben. Meist erlebe ich, dass Lehrpersonen in einen Entwicklungsmodus kommen und selbst kreative Lösungen finden.
Das Churermodell ist also kein enges Korsett?
Reto Thöny: Nein, es bietet viel Gestaltungsspielraum. Die Frage lautet nicht: „Wie macht man das im Churermodell?“ sondern: „Was mache ich mit dieser Idee – ausgehend vom umgestellten Schulzimmer?“ Meine Schlussfolie in Weiterbildungen zeigt immer zwei Tipps: „Einfach beginnen“ und „Einfach beginnen“. Im Sinne von: den Mut haben zu starten – und: nicht alles auf einmal erreichen wollen. Also: Schulzimmer umstellen und beobachten, was passiert. Alles Weitere folgt von selbst.




