Wie Grundschulen mit Verhaltensauffälligkeiten umgehen können
Eine Klasse aufbauen, die sozial stark ist
Verhaltensauffälligkeiten von Schülerinnen und Schüler, so das Ergebnis des aktuellen Schulbarometers der Robert Bosch Stiftung, stellen für Lehrkräfte ein großes Problem dar und gehören zu den Hauptbelastungen im Schulalltag. Gründe für den Anstieg an Verhaltensauffälligkeiten gibt es viele. Wir wollten aber wissen, was steckt hinter diesem Begriff und was können Lehrkräfte tun, um möglichst allen Kindern und auch sich selbst gerecht zu werden? Darüber und welche Präventionsmöglichkeiten es gibt, haben wir mit der Grundschullehrerin und Schulberaterin Astrid Dörnhoff gesprochen.

Frau Dörnhoff, was sind eigentlich verhaltensauffällige Kinder? Gibt es dafür eine klare Definition?
Astrid Dörnhoff: Die eine klare Definition gibt es nicht, aber ich denke, dass sich die Definitionen in gewisser Weise ähneln. Es geht um kindliche Verhaltensweisen, die sich deutlich abgrenzen und unterscheiden von denen, die andere Kinder in vergleichbaren Situationen zeigen würden. Und zwar über einen längeren Zeitraum. Das sind vor allem sozial emotionale Auffälligkeiten, die natürlich schnell mit Unterrichtsstörungen einhergehen. So fällt es manchen Kindern schwer, ihre eigenen Bedürfnisse zurückzustellen, um gerade jetzt diese schulische Aufgabe zu erledigen. Es gibt aber auch Verhaltensweisen, die aus dem Bereich der Wahrnehmung kommen. Dass Kinder eine Konfliktsituation, die erlebt worden ist, ganz anders darstellen, als andere Kinder oder auch ich sie wahrgenommen haben. Daneben gibt es Kinder mit Konzentrationsschwierigkeiten oder auch Kommunikationsschwierigkeiten oder auch Kinder, die sich zurückziehen und Schulangst haben. Und damit haben wir ein ziemlich breites Spektrum.

Astrid Dörnhoff
Lehrerin und SchulberaterinDie größte Herausforderung ist, wenn sich solche Verhaltensauffälligkeiten in der breiten Masse zeigen.
Gibt es trotzdem bestimmte Auffälligkeiten, die besonders belastend für die Lehrkraft sind?
Astrid Dörnhoff: Ich glaube, dass jede Lehrkraft einen anderen Punkt herausgreifen würde. Manche Lehrkräfte haben zum Beispiel Schwierigkeiten mit Kindern, die massive Unterrichtsstörungen an den Tag legen, weil sie sich dem aktuellen Geschehen verweigern oder gegen bestehende Regeln rebellieren und ständig reinrufen. Ein solches Verhalten macht mir eher weniger zu schaffen, weil ich meist einen persönlichen Zugang zu Kindern finde und das Verhalten so in Bahnen lenken kann, die in Ordnung sind.
Was ich heutzutage immer schwieriger finde, ist, wenn insbesondere Schulanfängerinnen und Schulanfänger die notwendigen Lernvoraussetzungen gar nicht erst mitbringen, dass sie nicht wissen, wie man sich fokussiert, wie man sich konzentriert. Die auch gar nicht wissen, dass eine gewisse Anstrengungsbereitschaft Voraussetzung fürs Lernen ist. Die größte Herausforderung ist, wenn sich solche Verhaltensauffälligkeiten in der breiten Masse zeigen. Etwas, das mich ganz persönlich an meine Grenzen bringt, ist, wenn ältere Kinder sich aus irgendeinem Grunde komplett der Arbeit verweigern. Nicht unbedingt, weil sie nicht wollen, sondern weil sie den Zugang zur schriftlichen Arbeit nicht finden. Und das sind vor allem Kinder mit ADHS, die vielleicht im Mündlichen stark sind, die alles wissen, es aber nicht verschriftlichen können.
„Man kann Rückzugsräume auf dem Schulhof organisieren“
Aber Kinder sind ja nun mal unterschiedlich. Sollte nicht die Schule damit umgehen können und welche Rahmenbedingungen muss sie dafür schaffen?
Astrid Dörnhoff: Auch in einer ersten Klasse haben wir neben dem Klassenlehrer oft eine eigene Lehrkraft für Musik, für Sport, eine Religions- und Lebenskundelehrkraft oder jemanden für Kunst. Dazu kommen die Pädagoginnen und Pädagogen aus dem Hort. Sie kommen also auf eine sehr große Anzahl an Menschen, die mit diesen kleinen frisch eingeschulten Wesen arbeiten. Wir brauchen eine Rückkehr zum klaren Klassenlehrkraftprinzip. Das heißt nicht, dass die Lehrkraft die einzige Ansprechperson ist, aber sie muss die Konstante durch den ganzen Tag sein. Das hilft Kindern mit Verhaltensauffälligkeiten enorm.
Dann brauchen wir mehr Doppelbesetzungen, mehr Zeiten also, in denen zwei Lehrkräfte oder zusätzlich zur einen Lehrkraft eine Erzieherin, eine Sonderpädagogin oder ein Schulsozialarbeiter in der Klasse ist. Und natürlich brauchen wir kleinere Klassen. Man kann außerdem Rückzugsräume auf dem Schulhof organisieren, abgetrennte Bereiche, in denen klar ist, hier wird nicht gerannt, nicht getobt, hier läuft es ruhiger, damit Kinder mit besonderen Schwierigkeiten wie ADHS oder Autismus zur Ruhe finden können oder auch Kinder, die einfach aus anderen Gründen für sich mehr Ruhe brauchen, damit sie nachher gelassener in den Klassenraum zurückkehren können.
Es gibt auch gezielte schulische Unterstützungssysteme. Das sind zum Beispiel Trainingsräume für Kinder, die in irgendeiner Weise gerade im Unterricht nicht klarkommen, die dann von der Schulsozialarbeit herausgenommen werden können. Dort kann auch mit den Kindern an individuellen Bewältigungsstrategien gearbeitet werden. Es braucht spezielle Förderprogramme mit Sonderpädagogen. Die Sonderpädagogen sind häufig schon damit ausgelastet zu diagnostizieren und kommen nicht in ausreichendem Maße dazu, mit den Kindern gezielt zu arbeiten, weil sie einfach zu wenige Stunden haben. Die Diagnostik ist ein wichtiger Schritt, aber es muss auch Zeit für die Förderung sein. Und dann brauchen wir natürlich multiprofessionelle Teams, damit gemeinsame Handlungsstrategien für ein Kind entwickelt werden können. Und dafür wiederum brauche ich neben meinem Unterricht auch Zeit, um diese Zusammenarbeit zu organisieren und durchzuführen.

Astrid Dörnhoff
Lehrerin und SchulberaterinGutes Classroom Management hilft ungemein, einen Großteil der Unterrichtsstörungen von vornherein zu verhindern.
Was kann ich konkret als Lehrkraft tun, damit es sowohl den Kindern als auch mir besser geht?
Astrid Dörnhoff: Zunächst sollte ich nicht alles persönlich nehmen. Dann vieles hat nichts mit mir zu tun. Das Kind hat für sein Verhalten häufig ganz andere Gründe. Und ich muss auch nicht alles als störend interpretieren. Ich hatte zum Beispiel ein Kind mit einer ADHS-Problematik, das ständig reingerufen und seine Witze gemacht hat. Meiner Meinung nach waren das sehr intelligente Bemerkungen zum Unterrichtsgeschehen und zum Unterrichtsinhalt. Ich konnte damit gut umgehen. Ich wusste, dieser kluge Kopf, der langweilt sich sonst, der muss das jetzt mal rauslassen. Andere Kollegen haben sich massiv über dieses Kind beschwert, weil sie sagten, das stört, das bindet so viel Aufmerksamkeit.
Organisatorisch hilft natürlich auch einiges. Da kommt das Stichwort Classroom Management ins Spiel. Gutes Classroom Management hilft ungemein, einen Großteil der Unterrichtsstörungen von vornherein zu verhindern. Das reicht von der Klassenraumgestaltung, bei der alle Kinder wissen, wo die Sachen sind und wo sie sie wieder hinbringen müssen, bis hin zur Visualisierung dessen, was als nächstes passieren wird. Als Lehrkraft geht man davon aus, alle haben verstanden, was angesagt ist, das ist aber gar nicht automatisch so. Ein Teil der Klasse hat vielleicht aus irgendwelchen Gründen, zum Beispiel aufgrund von Wahrnehmungsschwierigkeiten oder von zu vielen Verarbeitungsprozessen einiges von der Erklärung nicht mitbekommen. Alles, was ich visualisiere und in Symbolen oder Textform an die Tafel schreibe, hilft diesen Kindern, wieder von allein in das Unterrichtsgeschehen zurückzufinden. Je mehr die Kinder befähigt werden, allein ihre Probleme im Unterricht zu lösen, desto eher werden diese ganzen Störungen rausgenommen.
Ganz wichtig ist auch die Atmosphäre, die ich in der Klasse kreiere. Wie viel Arbeit investiere ich in Klassenrat und Gespräche zur Selbstbestimmung? Wie viel Zeit investiere ich, eine Atmosphäre in der Klasse zu schaffen, die Andersartigkeit und Unterschiedlichkeit von Schülern selbstverständlich akzeptiert? Wenn man sich in der Klasse wohlfühlt, wenn man sich akzeptiert und sicher fühlt als Kind, wenn man geschützt wird, dann gibt es weniger Grund, Auffälligkeiten zu zeigen, weil man sich entspannen kann.
Wie wichtig sind Rituale und Routinen?
Astrid Dörnhoff: Strukturen, Rituale und Regeln schaffen ja einen Rahmen. Und ein Rahmen verheißt auch Sicherheit. Er darf natürlich nicht zu eng sein. Dann muss ich auch ein gewisses Verständnis in die Sinnhaftigkeit dieser Regel mit den Kindern erarbeiten, damit sie den Nutzen dieser Regeln erkennen. Und dann müssen die Konsequenzen klar sein, wenn Regeln nicht eingehalten werden. Lehrkräfte brauchen nicht unbedingt die eine Regel, die funktioniert, die gibt es nämlich nicht, sondern es geht immer darum: Wie stelle ich diese Regeln auf und wie konsequent und wie transparent ist es, was passiert, wenn die Regel nicht eingehalten wird? Und das ist, glaube ich, das absolute A und O.
Welches Gewicht hat die Zusammenarbeit mit den Eltern und wie kann sie gelingen?
Astrid Dörnhoff: Wenn ich eine Klasse neu übernehme, versuche ich, alle Eltern persönlich kennenzulernen, bevor es zu Schwierigkeiten kommt. Denn dann hat man eine Beziehung aufgebaut und den Eltern ist klar, die Lehrkraft ist positiv eingestellt und sie will die Stärken ihres Kindes herausarbeiten und nicht nur auf die Schwächen zeigen. Das heißt, ich muss signalisieren, dass ich das Kind als Person schätze, dass es aber Punkte und Momente gibt, an denen wir gemeinsam arbeiten müssen.
Welche Rolle spielt die Grundschule für die Prävention, damit die Kinder später in den weiterführenden Schulen weniger auffällig sind und besser zurechtkommen?
Astrid Dörnhoff: Ich denke, dass Grundschule in dem Bereich sehr viel leisten kann. Wenn ich eine gute, unterrichtslaufende Diagnostik mache und Schwierigkeiten frühzeitig erkenne und Maßnahmen ergreife, dann kann ich ganz viel Schulfrust und Anpassungsschwierigkeiten von Kindern in den Blick bekommen. Oder auch, wenn Kinder bei mir gelernt haben, sich an Regeln zu halten, sich in der Gruppe einzufinden, eigene Bedürfnisse zurückzustellen, Schwierigkeiten auch eigenständig zu lösen, indem sie Handlungsstrategien haben. Was tue ich im Fall eines Konfliktes? Welche Möglichkeiten gibt es, diesen Konflikt auf friedliche Art und Weise zu lösen, vielleicht sogar, ohne die Lehrerin in Anspruch nehmen zu müssen? Dann baue ich eine Klasse auf, die sozial stark ist und Kinder, die aus einer sozial starken Klasse kommen, können in der weiterführenden Schule auf ganz andere Strategien und Maßnahmen zurückgreifen.
Auf jeden Fall haben wir somit Einflussmöglichkeit. Es gibt aber auch Grenzen, weil etwa Eltern nicht mit uns an einem Strang ziehen, oder weil Kinder tiefgreifende Probleme haben, die einer dauerhaften Begleitung bedürfen. Und man muss auch zugeben, je mehr Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten in die Schule kommen, desto schwieriger wird es für mich, auf jedes Kind individuell einzugehen und jedem Kind die Förderung zukommen zu lassen, die es braucht, um an den weiterführenden Schulen vernünftig arbeiten zu können. Grundschule kann ganz viel, aber manchmal stoßen wir an unsere Grenzen.
Aber die Arbeit in der Grundschule spielt schon eine sehr große Rolle?
Astrid Dörnhoff: Auf jeden Fall. Ganz viele meiner Kolleginnen und Kollegen behalten trotz all der Schwierigkeiten und mancher Überforderungssituation den offenen und neugierigen Blick aufs Kind und der ist der Schlüssel zum Kind.
Zur Person
Astrid Dörnhoff arbeitet als Grundschullehrerin in Berlin, ist Schulberaterin in der Fortbildung Berlin und Autorin für Fachdidaktik mit dem Schwerpunkt Leseförderung. Sie war am Landesinstitut für Schule und Medien Berlin-Brandenburg in der Unterrichtsentwicklung und Lehrerfortbildung tätig sowie viele Jahre Beiratsmitglied der Zeitschrift Grundschule.
Sie ist Mitautorin des Sammelbands Mutmacher im Umgang mit Unterrichtsstörungen - Vorbeugen, reflektieren, meistern. Bei Cornelsen ist außerdem ihr Ratgeber Lesen trainieren - Bücherwelten eröffnen · Differenzierender Leseunterricht in der Praxis erschienen.








