Medienethik: Zwischen Wahrheit, Lüge und Bullshit
Lebensnahe Unterrichtsbeispiele als wichtiger Baustein für Demokratiebildung
Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit. Weltweit ist sie sogar auf dem Rückzug, wie die „Economist Intelligence Unit“ (EIU) des britischen Economist-Verlags 2024 in einer Studie* herausfand. Historische und aktuelle Konflikte auf der Welt zeigen, wie fragil demokratische Strukturen sein können. Umso wichtiger ist es, früh damit zu beginnen, Kindern und Jugendlichen ein Demokratieverständnis zu vermitteln – gerade vor dem Hintergrund einer Medienlandschaft, die sich in den vergangenen Jahren massiv verändert hat.
In Zeiten von Fake News, Filterblasen und populistischer Propaganda braucht es Einordnung. Immer wieder. Ein lebendiger, partizipativer und wertorientierter Unterricht kann viel dazu beitragen, Demokratie für junge Menschen erfahrbar zu machen und dadurch Verantwortungsbewusstsein, Selbstwirksamkeitsempfinden und kritisches Denken zu fördern – insbesondere im Umgang mit (sozialen) Medien. In neueren Lehrplänen bekommt das Thema Medienethik einen größeren Stellenwert.

Medienethik im Lehrwerk ethikos
Ninja Süßenbach, Cornelsen-Redakteurin für Kulturwissenschaften, und Steffanie Metzger, Autorin und Gymnasiallehrerin für Politik, Deutsch und Ethik, haben der Medienethik im 2024 erschienenen Ethik-Lehrwerk ethikos für die 10. Klasse Gymnasium Bayern ein eigenes Kapitel gewidmet. Darin geht es zunächst ausführlich um die Bedeutung von Medien für Demokratie und Gesellschaft, bevor im zweiten Teil der Wahrheitsbegriff im Mittelpunkt steht. Fragen wie: Was macht einen Text wahr? Was ist Meinung, was Information? Und wie unterscheide ich das? Große, substanzielle Fragen, die schnell die Ambivalenz spürbar werden lassen, die häufig mit Medienkonsum einhergeht.
„Medienethik und Medienkunde waren in Bayern lange Zeit an den allermeisten Gymnasien gar nicht im Lehrplan, auch nicht im Fach ‚Politik und Gesellschaft‘, früher Sozialkunde. Erst mit den Wahlerfolgen populistischer Parteien kam für die aktuelle Lehrplangeneration ab etwa 2017 das Bewusstsein auf, dass es notwendig ist, im Unterricht mehr über Demokratie, Medien und die Zusammenhänge zu sprechen“, beschreibt Steffanie Metzger die Ausgangslage. Sie unterrichtet selbst an einem bayerischen Gymnasium, wendet also die für ethikos entwickelten Materialien direkt an. Bei der Konzeption und Erstellung der Inhalte kamen der Autorin ihre Erfahrungswerte als Lehrkraft enorm zugute. Ihr war es wichtig, dass die Inhalte viele Anschlussmöglichkeiten in andere Fächer hinein bieten. So können auch Lehrkräfte ohne philosophiedidaktischen Hintergrund sehr gut mit dem Buch arbeiten.
Der visuelle Zugang

Doch wie lassen sich so umfassende Themen wie Demokratie und Freiheit und eine so veränderungsintensive Branche wie die Medienlandschaft komprimiert auf gut 30 Buchseiten darstellen? „Die große Herausforderung war, gute reale Beispiele auszuwählen und diese dann so zu verdichten, dass sie jeweils verschiedene Kompetenzbereiche verbinden“, erklärt die Autorin. Um das zu erreichen, wurde nicht nur am Text, sondern auch besonders intensiv an den dazugehörigen Grafiken getüftelt, die bestimmte Mechanismen visuell nachvollziehbar und erfahrbar machen.
Die Bildbeispiele seien auch deshalb sehr wichtig, weil Jugendliche immer weniger Textkompetenz haben. Steffanie Metzger: „Sie wachsen in einer Zeit des Medienwandels auf, die weg geht vom Text. Durch TikTok, Instagram, Snapchat und Co. sind sie unglaublich kompetent im Bereich der visuellen Kommunikation, aber mit längeren Texten häufig sehr gefordert. Insofern sind Medien für Jugendliche in erster Linie Bildmedien. Deshalb haben wir in dem Buch in der Aufgabenkultur verstärkt bildbasiert gearbeitet, etwa mit Grafiken – mehr, als es traditionell am Gymnasium üblich ist.“
Medienethik im Lehrwerk ethikos
Die Verzerrung des Wahrheitsbegriffs
Inhaltlich lagen der Autorin die Fragen rund um das Thema Wahrheit besonders am Herzen. Was passiert mit Wahrheit, wenn der Medienwandel weiter voranschreitet, vor allem durch die Entwicklung weg von klassischen Massenmedien hin zu Social Media? Die im Wesentlichen einheitliche Realität, auf die sich die Generationen vor der Einführung des Internets noch einigen konnten, sei entstanden, „weil alle die gleiche Tagesschau gesehen oder die gleiche Zeitung gelesen haben“. Mit Social Media habe sich dieser empfundene Konsens verändert. Dadurch, dass der Algorithmus für jede Person einen individualisierten Feed ausgibt, verschwinde die im Wesentlichen ähnliche Realitätswahrnehmung.
Für Steffanie Metzger ist das „eine der Hauptursachen für entfesselten Populismus wie zum Beispiel in den USA, der Demokratie zu bedrohen scheint. Wenn sich keine Einigung mehr darüber erzielen lässt, was Wirklichkeit, was Realität ist, dann gehen Risse durch ganze Familien und man spricht scheinbar nicht mehr über dieselbe Welt, was Verständigung und Miteinander massiv erschwert. Dieses Phänomen haben wir nicht mehr nur in autoritären Staaten, sondern mitten in Demokratien. Das amerikanisch geprägte agree to disagree kommt dann nicht mehr nur bei Meinungsfragen zum Tragen, wo man natürlich aus guten Gründen unterschiedlicher Auffassung sein kann, sondern bei dem, was wir ehemals Fakten genannt haben.“ Durch diese Verzerrung werde Wahrheit im schlimmsten Fall zu einer Kategorie, mit der man nicht mehr arbeiten könne.
In ethikos wird dieser Zusammenhang beispielsweise in einem Text der Psychologin und demokratiepädagogischen Publizistin Marina Weisband deutlich, in dem es um die Folgen von Fake News und Verschwörungsmythen aus psychologischer Sicht geht.
Das Bullshit-Kapitel

Ein Vertiefungskapitel mögen Steffanie Metzger und Ninja Süßenbach besonders gern. Es ist ein Text des US-amerikanischen Philosophen Harry G. Frankfurt – darin geht es um Lüge, Wahrheit und den Begriff des „Bullshits“. Mit Letzterem werden inhaltsleeres Gerede und Äußerungen bezeichnet, die weder gelogen sind noch auf Fakten beruhen und einzig das Ziel verfolgen, die Interessen des Sprechenden auf Biegen und Brechen durchzusetzen und dieses Vorhaben gleichzeitig zu verschleiern. In der Entstehungsphase des Buches ahnte das Redaktionsteam noch nicht, wie viele mustergültige Beispiele für „Bullshitting“ insbesondere die US-Politik in den folgenden Jahren noch liefern würde.
„Unser Ziel ist, dass junge Menschen bestimmte Phänomene nicht nur mit offenem Mund verfolgen, sondern beim Namen nennen und erklären können“, sagt Steffanie Metzger. „Denn wenn man Worte dafür hat, verfügt man über ein Instrument, um selbst aktiv zu werden und sich für die Erhaltung von Demokratie einzusetzen. Das möchten wir mit den Beiträgen aus dem Buch bieten.“ Bei den Schüler*innen kommt diese Strategie an. Jedenfalls zeigen das die vielen Nachfragen, das Interesse und das Feedback.
Ninja Süßenbach hat sich sehr dafür stark gemacht, dass Begriffe wie „Bullshit“ oder „Fake News“ nicht nur im Lehrwerk auftauchen, sondern auch definiert und erklärt werden. „Ich finde es enorm wichtig, dass solche Begriffe nicht einer Diskursverschiebung zum Opfer fallen“, so die Redakteurin. Eine klare Haltung, die beispielsweise den zeitweise hartnäckigen Umdeutungsversuchen des Begriffes „Fake News“ aus rechten Kreisen etwas entgegensetzte. Einordnung, immer wieder.
Dieses Beispiel zeigt, wie auch Verlage als Teil der Bildungsmedienlandschaft mitverantwortlich dafür sind, dass sich Diskurse nicht verschieben, dass sich Lehrkräfte nicht im schlimmsten Fall von demokratiefeindlichen Kräften beeinflussen lassen und dass Schüler*innen in die Lage versetzt werden, verantwortungsbewusste Entscheidungen zu treffen. Steffanie Metzger formuliert es so: „Schule soll ja in der politischen Bildung ein neutraler Ort sein. Neutral heißt aber nicht anything goes, sondern anything goes innerhalb der Grenzen unserer wertbasierten Verfassung – und natürlich den Vorgaben des Beutelsbacher Konsenses folgend: sodass Bildung kontrovers diskutierte Themen kontrovers darstellt, die Schüler*innen nicht überwältigt und sie in die Lage versetzt, ihre eigenen Interessen im Diskurs zu vertreten.“
Die Erkenntnis als Kompass fürs eigene Handeln
Im Kapitel zu Medienethik werden auch die Gründe dafür erklärt, warum sich manche Aussagen und Annahmen – so absurd sie auch erscheinen mögen – so stark verbreiten und kaum noch Raum für Differenzierung und Zwischentöne lassen. „Wir erklären, dass nur, wenn man eine bestimmte Aussage immer wieder hört, es noch lange nicht heißt, dass sie wahr und richtig ist. Wenn Schüler*innen diese Mechanismen durchschauen und verstehen, können sie lernen, damit umzugehen“, sagt Ninja Süßenbach.
Die Erfahrungen aus ihrer eigenen Unterrichtspraxis zeigen Steffanie Metzger, dass sie und das Team gerade mit dem Ansatz, echte, aktuelle Beispiele aufzugreifen, auf dem richtigen Weg sind: „Es sind diese besonderen Momente, in denen die Schüler*innen begreifen, dass es nicht nur um trockenes Philosophie-Lehrbuchwissen und um den x-ten Aufsatz über ‚das böse Internet‘ geht, sondern dass es echt etwas mit ihnen zu tun hat und mit ihrem unmittelbaren Alltagshandeln vernetzt ist. Wenn es zum Beispiel um den Wahrheitsbegriff geht und um die Modelle der Konsens-, Kohärenz- und Korrespondenztheorie, dann ist es schön zu beobachten, wie intensiv die Jugendlichen hier in hitzige Debatten geraten und eigene Haltungen entwickeln. Das macht spürbar, wie wichtig das Konzept Wahrheit ist, wie es mit der eigenen Lebenswelt zusammenhängt und dass es okay ist, unterschiedliche Betrachtungsweisen anzuerkennen. Denn wenn der beste Kumpel einen anderen Wahrheitsbegriff hat als man selbst, dann muss man das erst mal aushalten. Das ist der Weg.“
Zur Person

Steffanie Metzger, geboren 1979, studierte Germanistik, Philosophie, Politikwissenschaft und Soziologie. Sie war Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der LMU München und unterrichtet seit 2008 Deutsch, Politik und Gesellschaft sowie Ethik am Gymnasium.

Ninja Süßenbach, geb. 1972, studierte Philosophie, Germanistik, Pädagogik und Psychologie an der Humboldt Universität zu Berlin. Seit 2008 ist sie Redakteurin für Philosophie und Ethik beim Cornelsen Verlag und Mitglied der Arbeitsgruppe „Diversity & Inclusion“.
