Differenzieren & Fördern / 22.06.2018

Zwischen Krieg und Klassenzimmer

Wie Kinder aus geflüchteten Familien Deutsch lernen

Provisorische Bedingungen für den Deutschunterricht mit Flüchtlingskindern sind keine Seltenheit. Keine geeigneten Räume, zu wenig Zeit und Schüler auf ganz verschiedenen Lernniveaus – das sind nur ein paar der Schwierigkeiten, mit denen Lehrkräfte umgehen müssen. Das Beispiel von Annett Pölöskei, Lehrerin in Oranienburg, zeigt, wie man trotzdem viel daraus machen kann.

Junger Schüler mit aufgeschlagenem Buch über dem Kopf
Bild: Shutterstock.com/AppleZoomZoom

Als Naim das Wort Eskimo lernen soll, blitzt der Krieg durch. Ein Eskimo ist dem palästinensischen Jungen nicht fremd: Auf der Flucht, in Libyen, gab es ein Eis gleichen Namens. Dass man Eskimos nicht nur schlecken kann, sondern ihnen in der Arktis begegnet, das lernt Naim zusammen mit drei anderen Kindern im Grundschulalter an diesem Morgen im Kulturhaus von Lehnitz. Den quirligen Jungen hat die Flucht zusammen mit seinen vier Brüdern und den Eltern in diesen Ortsteil von Oranienburg, nahe Berlin, geführt.

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Schnelle Fortschritte

Lehrerin Annett Pölöskei hat im Herbst 2014 gemeinsam mit zwei Kolleginnen angefangen, den Deutschunterricht für Flüchtlingskinder aufzubauen. Im Januar haben sie offiziell mit dem Unterrichten begonnen. Seitdem haben die Kinder und Jugendlichen, vor allem aus Syrien und Palästina, erstaunlich viel gelernt – sie erzählen in einfachen deutschen Sätzen von ihren Hobbys Schwimmen und Fußball, wo sie herkommen, wie sie in ihrer Heimat gelebt haben und vieles mehr.

Die Regelschulen in Oranienburg sind voll, die Kinder und Jugendlichen aus der im Winter neu bezogenen Unterkunft für Geflüchtete lernen deshalb tageweise im Lehnitzer Kulturhaus. Vom Vorabend kleben noch die Sektreste des Seniorenchores auf den Tischen, im Raum gibt es nur einen Kassettenrekorder und eine Tafel. Annett Pölöskei kommt an jedem ihrer Unterrichtstage eine Dreiviertelstunde früher, um aufzuräumen.

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Ein schulisches Umfeld ist wichtig

Provisorische Bedingungen für den Deutschunterricht mit Kindern aus Flüchtlingsfamilien sind keine Seltenheit. Angesichts rasch steigender Ankünfte von Geflüchteten in deutschen Städten und Gemeinden sind schnelle, unkomplizierte Wege gefragt, damit die Kinder und Jugendlichen hier zur Schule gehen können. Dann liegt es fast allein in der Hand der Lehrer, die Kinder in möglichst kurzer Zeit fit zu machen für die Regelschulen.

Dass die Kinder in Lehnitz nicht unter sich bleiben – so effektiv der Unterricht in den zwei kleinen Gruppen im Grundschul- und Sekundarstufenalter auch sein mag –, liegt Annett Pölöskei am Herzen. "Die Kinder und Jugendlichen brauchen ein schulisches Umfeld", sagt sie und hat mit daran gearbeitet, dass ihre Schüler nach und nach auch in Regelschulen eingebunden werden, tageweise in normalen Klassen oder im Förderunterricht.

Individuelle Unterrichtseinheiten

Die Kinder bringen ganz unterschiedliche Voraussetzungen mit: Während Naim und seine Brüder aufgeweckt, selbstbewusst und schon mit schulischer Vorbildung vor ihr sitzen, lernt ein paar Stühle weiter der kurdische Junge Sabri, der weder lesen noch schreiben konnte, als er nach Ostern zum ersten Mal kam. Sie alle unter einen Hut zu bekommen, das schafft Annett Pölöskei mit einem spielerischen Ansatz, mit persönlichen Worten für jedes Kind und einem sorgsam zusammengestellten Unterrichtsplan, für den sie und ihre Kolleginnen sich aus verschiedenen Lehrbüchern und pädagogischen Spielkästen mit hohem Zeitaufwand das Passende heraussuchen.

Dass die Kinder von der Schulverwaltung zunächst nur "Leihbücher" bekamen, sollte Geld sparen. Im Falle einer Abschiebung, die oft von einem Tag auf den anderen geschieht, sollten die Kinder ihre Bücher vorher noch schnell in die Schule zurückbringen. Eine ebenso unpraktikable wie herzlose Regel. Es brauchte viel persönlichen Einsatz von Annett Pölöskei und ihren Kolleginnen, um das zu ändern.

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Kinder werden mitten im Schuljahr abgeschoben

Von den über 20 Jungen und Mädchen, die anfangs ihre Klassen in Lehnitz füllten, sind viele inzwischen abgeschoben worden, vor allem Kinder aus Serbien und Tschetschenien. Kinder, die Annett Pölöskei ans Herz gewachsen waren. Wie das kleine tschetschenische Mädchen, das anfangs ganz verschlossen war und dann, als es anfing, Vertrauen zu fassen, Lehnitz und die Schule verlassen musste. "Ich kann die Gesetze nicht ändern", sagt Pölöskei. "Es hilft mir, mich in solchen Situationen auf den Unterricht zu konzentrieren und für die anwesenden Schüler voll und ganz da zu sein." 

Ihre Arbeit verlangt ihr weit mehr ab als pädagogisches Fachwissen. So erklärt sie Sabris Vater, der seinen Sohn erst dann in den Klassenraum bringt, als der Unterricht schon fast vorbei ist, geduldig in einfacher Sprache den neuen Stundenplan.

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Politische Konflikte machen vor dem Klassenraum nicht halt

Politische und gesellschaftliche Konflikte machen auch vor dem Kulturhaus Lehnitz nicht halt. Als die Kinder gemeinsam Länder des Nahen Ostens auf der Weltkarte suchen, kommt schnell ein Spruch über "ungeliebte" Nachbarn. Annett Pölöskei versucht das so gut es geht zu ignorieren. "Hier steht der Deutschunterricht im Vordergrund", sagt sie resolut. Auch sonst setzt sie eher auf das Zuhören denn auf beharrliches Nachbohren: Sie fragt nicht explizit nach Fluchterlebnissen oder dem Krieg in der Heimat. "Aber wenn ich merke, dass die Kinder davon erzählen möchten, dann höre ich zu und nehme mir dafür Zeit."

Immer wieder stößt die Pädagogin an Grenzen: Geflüchtete Familien, die wenig Chancen haben, in Deutschland zu bleiben, interessiert die deutsche Schulpflicht für ihre Kinder oft wenig. "Wir haben zum Beispiel gemerkt, wie schwer es ist, die Kinder von Roma-Familien im Unterricht zu halten", sagt die Lehrerin. Deutsch zu lernen braucht Zeit, und sich dafür zu motivieren fällt schwer, wenn die persönlichen Perspektiven fehlen. "Wir haben auch einen Jungen, dessen Vater so depressiv ist, dass er seinen Sohn nur selten in den Unterricht bringt. Er spricht nur Kurdisch, sodass wir auch sprachlich nur ganz schwer an ihn rankommen", erzählt Annett Pölöskei. Juristisch betrachtet könnte sie veranlassen, dass ein Bußgeld gegen den Mann verhängt wird, schließlich kommt er der Schulpflicht für seinen Sohn nicht nach. Doch was würde das bringen? Lieber versucht die Lehrerin zusammen mit einer hilfsbereiten syrischen Mutter, mit dem Vater in engeren Kontakt zu kommen.

Finden Sie hier Tipps für eine bessere Zusammenarbeit von Lehrern und Eltern mit Migrationshintergrund. 

Wertvolle Erfolgserlebnisse

Angesichts der Schwierigkeiten machen die Erfolge umso glücklicher. Die Projektwoche zu internationalem Essen, in die Annett Pölöskei "ihre" Kinder dank guter Kontakte zur benachbarten Grundschule eingebunden hat, ist ein solcher Erfolg. Genauso wie der neu gestaltete Fußballplatz, an dem die Flüchtlingskinder zusammen mit dem Sportverein und privaten Sponsoren mitgewirkt haben. Plötzlich standen auch Sabris Eltern und die Eltern anderer Kinder wie selbstverständlich mit auf dem Platz, haben geholfen und später mit gegrillt und gegessen. Aus dem einmaligen Projekt ist inzwischen ein fester monatlicher Familiensonntag geworden.

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