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Schule gestalten / 12.05.2020

"Ich hätte mir ehrlicherweise mehr Unterstützung gewünscht"

Interview mit dem Präsidenten des Deutschen Lehrerverbandes zur aktuellen Schulsituation 

Nach vielen Wochen werden jetzt die Schulen schrittweise wieder geöffnet. Es gelten Abstandsregelungen, Maskenpflicht in den Pausen und gelernt wird in kleinen Gruppen. Wie sieht das Lehren und Lernen unter diesen Bedingungen aus? Sind die Schulen darauf vorbereitet und bekommen sie genügend Unterstützung? Das haben wir den Präsidenten des Deutschen Lehrerverbandes, Heinz-Peter Meidinger, gefragt.

Bild: Shutterstock.com/esthermm

Interview mit Heinz-Peter Meidinger

Herr Meidinger, in den letzten Wochen wurde den Lehrkräften schon viel abverlangt, jetzt wird die Situation wahrscheinlich nicht einfacher. Was sind nach Ihrer Meinung die größten Herausforderungen?

Heinz-Peter Meidinger: Für die Lehrkräfte war es die größte Herausforderung, wegen der Schulschließungen von heute auf morgen neue Wege zu suchen, wie man mit den Schülern weiter kommuniziert, so dass das Lernen und Lehren fortgesetzt werden kann. Das hat einen regelrechten Innovationsschub ausgelöst, was den Umgang mit digitalen Instrumenten, Lernplattformen und Tools anlangt. An meiner Schule finden drei Viertel des so genannten Homeschoolings in Form von Videokonferenzen und Teams-Sitzungen statt. Da hätte sich vor einem Vierteljahr noch niemand vorstellen können, dass das funktioniert. Entscheidend ist aber nicht die Technik, sondern die Tatsache, dass Kommunikation stattfindet. Das kann auch die gute alte E-Mail sein. Übrigens ist die Vorstellung falsch, dass Homeschooling weniger Aufwand für Lehrkräfte bedeutet. Zum einen erfordert das wegen der Umstellung einen höheren Vorbereitungsaufwand, zum anderen gibt es einen intensiven Rücklauf an Beiträgen und Fragen, deren Bearbeitung einen hohen Zeitaufwand voraussetzt.

Sie selbst sind seit vielen Jahren Schulleiter und kennen die täglichen Anforderungen sehr gut. Was müssen und können Schulleitungen ihrer Meinung nach neben dem normalen Job jetzt leisten?

Heinz-Peter Meidinger: Ich habe mir in der Tat mein letztes Dienstjahr als Schulleiter etwas ruhiger vorgestellt. Das Problem derzeit ist, dass wir uns als Schulleitungen in einer Ausnahmesituation befinden, für die es keine Vorschriften und auch keine Erfahrungen gibt, auf die man zurückgreifen kann. Wir treffen auf Angst und Unsicherheit, Eltern, Schüler und Lehrer, die sich Sorgen um ihre Gesundheit machen, wir erleben Politiker und Ministerien, von denen wochenlang keine klaren Anweisungen und Zeitfahrpläne zu hören waren und wir sind in ständigem Kontakt zu Schulträgern, Kommunen, Personalvertretungen und den Schulgremien, um Gesundheitsschutz und Bildungsvermittlung so gut wie möglich zu gewährleisten.

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Über Spenden Masken und Desinfektionsmittel beschafft

Bekommen Sie Unterstützung?

Heinz-Peter Meidinger: In den ersten Wochen nach den Schulschließungen und auch bei der Vorbereitung der schrittweisen Schulöffnungen hätte ich mir ehrlicherweise mehr Unterstützung gewünscht. Wenn die Schulen alle darauf gewartet hätten, bis jeweils ein neues Schreiben von der Dienstaufsicht und aus den Ministerien kommt, bevor sie handeln, dann hätte der Schulstart für unsere Abschlussklassen nicht so gut geklappt, wie er dann funktioniert hat. Beispielsweise habe ich über Spenden selbst Atemschutzmasken und Desinfektionsmittel für die Rückkehr der Lehrkräfte und Schüler beschafft, weil bis drei Tage vor Schulstart nicht klar war, ob wir das vom Schulträger beziehungsweise dem Schulministerium bekommen.

„Alle Schulleitungen haben das Menschenmögliche versucht“

Sind die Schulen insgesamt gut vorbereitet? Ich denke da an ganz profane Dinge, zum Beispiel die Hygienevorschriften. Bringt nun zum Beispiel jedes Kind Handtuch und Seife mit, gibt es Papierhandtücher, oder eine andere Lösung?

Heinz-Peter Meidinger: Ich glaube, dass alle Schulleitungen das Menschenmögliche versucht haben, um einen hohen Infektionsschutz zu gewährleisten. Natürlich sind die Bedingungen vor Ort unterschiedlich. Wenn beispielsweise wenig Waschbecken vorhanden sind, muss man dafür sorgen, dass genügend Zeitfenster vor und zwischen den Stunden vorhanden sind, um jedem Kind die Gelegenheit zu geben, sich die Hände zu waschen. Die Hausmeister sind gehalten, die Seifenspender permanent aufzufüllen und auch für den regelmäßigen Nachschub der Einmalhandtücher zu sorgen.

Wenn wirklich einmal etwas fehlt, sollte es gemeldet und sofort ersetzt werden. Falls jemand völlig auf Nummer sicher gehen will, kann er sich ja ein Stück Seife in die Schule mitnehmen, auch wenn es hoffentlich nicht notwendig sein sollte, darauf zurückzugreifen. An den meisten Schulen gibt es auch kürzere Reinigungszyklen, zum Beispiel auch was Lichtschalter und Türklinken anbetrifft.

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„Eine Lehrkraft trifft selbst bei halbierten Klassen an einem Schultag auf bis zu 100 Schüler“

Die Lehrkräfte müssen jetzt gleichzeitig in geteilten Klassen unterrichten, die anderen Kinder im Homeschooling betreuen, darauf achten, dass die Kinder alle Vorschriften einhalten und sich selbst ausreichend schützen, zum Beispiel auch im Lehrerzimmer. Sicherlich bekommt Ihr Verband angesichts dieser Situation viele Anfragen von Lehrkräften, Kollegien und Schulleitern. Sind dies deren größte Sorgen?

Heinz-Peter Meidinger: Es ist absolut verständlich, dass sich vor allem die Risikopersonen unter den Lehrkräften, also Kollegen über 60 und welche mit Vorerkrankungen, besondere Sorgen machen. Bislang sind diese aber, was ich für absolut richtig finde, vom Präsenzunterricht befreit. Aber auch für alle anderen Lehrkräfte ist Gesundheitsschutz ganz wichtig. Man darf nicht vergessen, eine Lehrkraft trifft selbst bei halbierten Klassen an einem Schultag auf bis zu 100 Schüler. Deshalb sind die Abstände in den Unterrichtsräumen, aber auch eine Maskenpflicht außerhalb der Unterrichtsräume so wichtig. Was mich richtiggehend ärgert, ist die Tatsache, dass die Länder keine Rücksicht nehmen auf Lehrkräfte, die mit Risikopersonen im selben Haushalt leben. Ich kenne Lehrkräfte, deren Lebenspartner gerade eine Krebsbehandlung durchmachen, infolgedessen deren Immunsystem fast auf null heruntergefahren wurde. Diese Lehrkräfte werden vom Staat wieder in den Präsenzunterricht gezwungen, obwohl eine Infektion das Todesurteil für die mit ihnen zusammenlebende Person bedeuten könnte.

Und eines ist auch klar, sobald jetzt immer mehr halbierte Klassen wochenweise in den Präsenzunterricht zurückkehren, kann an den Tagen, an denen die Kinder danach wieder zuhause sind, der digitale Fernunterricht nicht im selben Umfang wie jetzt fortgeführt werden. Das würde die Lehrkräfte hoffnungslos überlasten.

Und was können Sie raten?

Heinz-Peter Meidinger: Ganz wichtig ist, dass jeder, der sich in der Schule aufhält, seinen eigenen aktiven Beitrag zum Gesundheitsschutz leistet, also Abstand hält, nach Möglichkeit Atemschutz trägt und andere ermahnt, wenn sie es etwas zu locker nehmen. Das funktioniert jetzt gut, ich fürchte aber, dass die Vorsicht nachlässt, wenn dieser Zustand länger andauert, vielleicht ja auch noch lange ins nächste Schuljahr hinein.

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„Schulen haben wieder vermehrt gelernt, sich selbst zu organisieren“

Was können Schulen und Bildungsbehörden aus den aktuellen Erfahrungen möglicherweise auch für die Zukunft lernen?

Heinz-Peter Meidinger: Neben allen negativen Erfahrungen, die wir gemacht haben, gibt es auch positive, die mich für die Zukunft optimistisch stimmen.

  1. Wir haben als Schulfamilie die Erfahrung gemacht, dass wir alle nicht nur für uns selbst, sondern auch für die anderen verantwortlich sind, für deren Gesundheit und Wohlergehen. Das Gemeinschaftsgefühl und das Bewusstsein der Selbstverantwortung wurden gestärkt.
     
  2. Schulen haben wieder vermehrt gelernt, sich selbst zu organisieren - sie mussten dies auch tun, weil sie streckenweise allein gelassen wurden. Das hat das Vertrauen in unsere eigenen Fähigkeiten und unser Handlungspotenzial gestärkt.
     
  3. Es hat einen wirklichen Digitalisierungsschub gegeben, weniger, was die Hardware, mehr, was die Kompetenz und Fähigkeit der Kollegien angeht, sich mithilfe digitaler Tools und Lernplattformen mit Schülern und Elternhäusern auszutauschen. Das wird auch in einem Schulbetrieb nach Corona positiv weiterwirken.

Zur Person

Heinz-Peter Meidinger leitet seit 2003 das Robert-Koch-Gymnasiums Deggendorf. Von 2003 bis 2017 war er Bundesvorsitzender des Deutschen Philologenverbandes. Seit Juli 2017 ist er Präsident des Dachverbandes Deutscher Lehrerverband.

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