Hinter den Kulissen / 24.05.2023

Interview: Olaf Köller über die Cornelsen Stiftung Lehren und Lernen

„Themen, die für die Schulen ganz klar nach vorn zeigen“

„Wir haben eine ganze Reihe von Baustellen, bei denen man deutlich sieht, dass Schule nicht gut funktioniert“, sagt der Leiter des Leibniz-Instituts für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik (IPN) Olaf Köller. Er hat die Schirmherrschaft der Cornelsen Stiftung Lehren und Lernen übernommen, die er bereits seit Jahren als Mitglied des Beirats begleitet. Ein Gespräch mit dem Wissenschaftler über Wettbewerbe und ihre Wirkung, den Stellenwert von Stiftungen und darüber, was sich an Schulen unbedingt ändern muss. Bei den dringend notwendigen Veränderungen blickt Olaf Köller in einem Punkt durchaus optimistisch in die Zukunft, in einem anderen jedoch nicht.

Olaf Köller
Bild: Cornelsen/Inhouse

Herr Professor Köller, Sie übernehmen jetzt die Schirmherrschaft der Cornelsen Stiftung Lehren und Lernen. Was zeichnet Ihrer Meinung nach diese Stiftung besonders aus?

Olaf Köller: Die Stiftung ist hoch engagiert im Bildungswesen und hat mit der Cornelsen Sommeruni ein Format gefunden, das mit einem sehr starken Programm eine Brücke zwischen Theorie und Praxis schlägt. Interessierte Lehrkräfte und sehr engagierte Akteure des Bildungswesens erhalten so über die Stiftung im Rahmen der Sommeruniversität ein Fortbildungsangebot, das sie nirgendwo sonst bekommen würden, das keine Universität und kein Landesinstitut ihnen anbieten könnte. 

Das ist ein einmaliges Format, um zur Qualifizierung und zum Netzwerken von Lehrkräften in Deutschland beizutragen. Mit dem Zukunftspreis würdigt die Stiftung zudem Projekte, die wirklich nach vorn gewandt sind.

Cornelsen Stiftung Lehren und Lernen

Die Cornelsen Stiftung Lehren und Lernen engagiert sich für eine bessere Unterrichtsqualität in Deutschland. Die gemeinnützige Stiftung stärkt die Kompetenzen von Lehrerinnen und Lehrern und fördert Innovationen, die Schule neue Impulse geben.  

Dieser Zukunftspreis wird jährlich vergeben. Aber haben die Schulen überhaupt noch die Zeit und die Kraft, sich an einem solchen Wettbewerb zu beteiligen?

Olaf Köller: Ja. Wir sind uns zwar einig, dass Schulen in dieser Zeit hoch belastet sind, durch die Pandemie und ihre Auswirkungen, durch Lehrkräftemangel, durch eine diverser gewordene Schülerschaft, durch mehr bürokratische Aufgaben und vieles mehr. Gleichzeitig haben wir trotz dieser Gemengelage nach wie vor Schulen, die sehr stark Prozesse der Schul- und Unterrichtsentwicklung vorantreiben, und die dies auch in der Regel in schriftlichen Konzepten festhalten.

Wir haben immer wieder Schulen, die sich die Frage stellen: Wie kann ich Unterrichtsorganisation in Zeiten von Lehrkräftemangel und von Digitalisierung so transformieren, dass ich einerseits keinen Unterrichtsausfall habe und gleichzeitig auch die Schülerinnen und Schüler intensiv an die Nutzung neuer Medien heranführen kann? Oder es gibt andere Schulen, die um ihre extrem heterogene Schülerschaft wissen und Programme entwickelt haben, mit denen sie dieser großen Heterogenität und den sich daraus ergebenden Problemen begegnen.

„Die Projekte und Auszeichnungen haben Modellcharakter und motivieren eine Auswahl von Schulen und Lehrkräften.“

Das heißt, gute Schulen, die es wert sind, dass sie solche Preise bekommen, können in der Regel bei solchen Bewerbungen aus dem Vollen schöpfen. Sie müssen nicht erst im Rahmen der Bewerbung das Rad neu erfinden, denn sie haben die Konzepte. Es geht eher darum, diese Konzepte dann so zu reformulieren, dass sie gut in die Antragslogik solcher Preise passen.

Zukunftspreis

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Cornelsen Sommeruni

Drei Tage voller Impulse, Workshops und Austauschmöglichkeiten: Die Cornelsen Stiftung Lehren und Lernen lädt nach Berlin ein. Workshops, Erfahrungsaustausch und eine politische Paneldiskussion verbinden sich mit einem aufregenden Rahmenprogramm zu erlebnisreichen Tagen.

Welche Wirkungen auf andere Schulen oder Schule insgesamt kann ein solcher Preis haben?

Olaf Köller: Die Projekte und Auszeichnungen haben Modellcharakter und motivieren eine Auswahl von Schulen und Lehrkräften, sich noch mehr zu engagieren als bislang. Ich denke also, solche Preise generieren eine Wirkung auf Schulen oder Personen, die sich ohnehin schon auf den Weg gemacht haben und die sich vor Ort besonders engagieren.

 

Sie haben die Wettbewerbe als Beiratsmitglied begleitet. Welche Beiträge haben Sie bisher am meisten beeindruckt?

Olaf Köller: Prämiert werden außergewöhnliche Schulen und außergewöhnliche Personen mit einem besonderen Programm und Engagement. Also: Beeindruckend sind sie alle. Was sie meiner Meinung nach alle auszeichnet, ist, dass sie Schule sehr stark aus den Augen der Schülerinnen und Schüler denken, sich in diesem Sinne engagieren und Initiativen zum Wohle der Schülerinnen und Schüler ergreifen. Denn Schule wird viel zu oft noch aus der Sicht der Lehrer gedacht.

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Zukunftspreis bedeutet ja, eine Vision von der Zukunft der Schule zu haben. Wohin muss sich Schule entwickeln?

Olaf Köller: Wir haben eine ganze Reihe von Baustellen, die zeigen, dass Schule nicht gut funktioniert. Da ist vor allem der gesamte untere Leistungsbereich. Wir verlieren derzeit in jeder Jahrgangsstufe 150 000 bis 200 000 Schülerinnen und Schüler, das heißt bis zu 30 Prozent der Kinder und Jugendlichen fallen jedes Jahr durchs Raster. Das sind Schülerinnen und Schüler, die am Ende der Grundschule und der Sekundarstufe I weder lesen, noch schreiben oder rechnen können. Das ist sehr stark mit der sozialen Herkunft und dem Migrationsstatus gekoppelt.

„Bis zu 30 Prozent der Kinder und Jugendlichen fallen jedes Jahr durchs Raster.“

Jeder zweite Migrant, jede zweite Migrantin bekommt nach der Schule keinen Ausbildungsplatz. Das hängt nicht damit zusammen, dass er oder sie oder die Eltern nicht in Deutschland geboren wurden, sondern dass diese Kinder in der Kita und in der Schule nicht ausreichend gefördert wurden. Die zweite große Baustelle ist die digitale Transformation unserer Schulen. Wir hatten hier einen starken Push durch die Pandemie, aber sobald die Pandemie vorbei war und alle wieder vor Ort lernen und arbeiten konnten, hat im Wesentlichen business as usual eingesetzt. Ganz platt ausgedrückt: Der IT-Schrott liegt jetzt irgendwo rum und man arbeitet wieder mit Tafel und Kreide. Wir müssen aber diese digitale Transformation in den kommenden Jahren vollziehen.
 

Warum ist das so wichtig?

Olaf Köller: Es hängt sehr stark mit dem Lehrkräftemangel zusammen, der uns in den nächsten 20 Jahren begleiten wird. Man muss Wege des Unterrichtens finden, bei denen man zeitweise auf Lehrkräfte verzichten kann. Dies kann nur durch Digitalisierung gelingen, etwa durch kollaboratives, computergestütztes Arbeiten der Schülerinnen und Schüler. Das kann teilweise zuhause geschehen oder auch in der Schule, wobei auch andere Personen als Lehrkräfte die Kinder und Jugendlichen betreuen können. Das heißt, Schule muss sich rasch von ihrem klassischen Szenario verabschieden: Vorne steht eine Person und dann sitzen 20 bis 30 Schülerinnen und Schüler an ihren Tischen, die entweder der Person lauschen oder nicht, die sich ab und zu melden oder etwas in ihr Heft schreiben dürfen.

Zukunftspreis – Preisträgerinnen und Preisträger

Vier Mal außergewöhnliches Engagement, vier Mal Mut und Entschlossenheit, neue Wege zu gehen und Unterricht erfrischend anders zu gestalten. Die diesjährigen Preisträgerinnen und Preisträger zeigen auf ganz unterschiedliche Weise, wie spannend und erlebnisreich Schule und Unterricht sein können. Wir haben alle Schulen besucht und stellen die prämierten Projekte im Kurzvideo vor.

Das gilt nicht für 100 Prozent der Schulstunden in der Woche, aber wir müssen zeitweise diese Konstellation vollständig zugunsten kollaborativer, computergestützter Arbeitsweisen und Phasen auflösen, in denen die Schülerinnen und Schüler stärker autonom arbeiten. Das gilt insbesondere für die älteren Schülerinnen und Schüler. Sonst müssen wir davon ausgehen, dass aufgrund des Lehrkräftemangels reihenweise Unterricht ausfallen wird.

 

Und an diesen beiden großen Baustellen gibt es Fortschritte?

Olaf Köller: Ja und nein. Bei der Digitalisierung bin ich recht optimistisch. Denn sonst muss Unterricht ausfallen und das bedeutet für Ministerinnen und Minister oftmals hohen poltischen Druck, denn die Eltern gehen auf die Barrikaden, wenn ihre Kinder nicht in der Schule betreut werden. Bei der sozialen Ungleichheit und Chancenungleichheit im Bildungssystem bin ich skeptisch. Wir haben das Startchancenprogramm der Bundesregierung, das in den kommenden Jahren mit Milliardenbeträgen aufgelegt werden soll.

„Bei der Digitalisierung bin ich recht optimistisch.“

Gleichzeitig ist dieses Programm wie viele andere nicht treffsicher bei dem, was sie eigentlich aus Sicht der benachteiligten Kinder und Jugendlichen erreichen müsstenn nämlich deren Kompetenzen zu steigern. Im Startchancenprogramm soll sehr viel Geld in Schulbau investiert werden. Man vergisst dabei aber: Nur weil ein Gebäude schön ist, lernt ein extrem sozial benachteiligtes Kind nicht besser, wenn der Unterricht weiterhin schlecht ist. Wenn es uns nicht gelingt, in den nächsten Jahren Förderprogramme auf den Weg zu bringen — und ich bin skeptisch, dass dies gelingen wird –, die wirklich diese Kinder und Jugendlichen in ihren elementaren Kompetenzen, die ihnen fehlen, unterstützen, wird sich hier nichts ändern. 

Ich glaube also nicht, dass wir in absehbarer Zeit diesen Anteil von 20 bis 30 Prozent extrem schwacher Schüler wirklich nachhaltig reduzieren werden, weil das System nicht bereit ist, die dafür notwendigen Maßnahmen auf den Weg zu bringen. Wir wissen, wie es geht, aber wir sehen immer wieder, dass in einzelnen Ländern argumentiert wird: Uns ist wichtiger, dass Kinder morgens einen Apfel zu essen bekommen, als dass sie Lesen lernen. Mein Pessimismus hängt auch damit zusammen, dass immer noch der massive Druck der Arbeitgeber fehlt. Ich wundere mich, warum die Arbeitgeber nicht entschiedener protestieren, weil so viele junge Leute nicht ausbildungsfähig sind. Und das zu einer Zeit, in der der Ausbildungsmarkt unter dem demografischen Trend leidet, dass es ohnehin zu wenig junge Leute gibt, die in den Ausbildungsmarkt gehen könnten. Solange hier gesellschaftlich nicht viel mehr angeklagt wird, wird sich daran nichts ändern.

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Kommen wir zum Abschluss noch einmal auf Ihre neue Aufgabe und damit vielleicht doch noch zu einem möglicherweise positiven Blick in die Zukunft. Welche Erwartungen haben Sie an Ihre Rolle als Schirmherr der Cornelsen Stiftung?

Olaf Köller: Schirmherrschaften sind ja nicht an Erwartungen geknüpft, sondern machen deutlich, dass man alt geworden ist. Aber im Ernst: Die Visionen beziehen sich eher auf die Themenfindung für zukünftige Sommeruniversitäten und Ausschreibungen. Und da besteht die Stärke der Stiftung darin, dass sie gemeinsam mit dem wissenschaftlichen Beirat und damit der Expertise der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Themen identifiziert, die – ich will nicht sagen visionär sind – aber die für die Schule ganz klar nach vorn zeigen.

Zur Person

Olaf Köller ist Geschäftsführender Wissenschaftlicher Direktor des Leibniz-Instituts für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik (IPN) an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Der Professor für Empirische Bildungsforschung ist außerdem Vorsitzender der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der Kultusministerkonferenz.

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