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Grundschule / 01.12.2025

Philosophieren in der Grundschule: Bedeutung, Methoden und Chancen

Wie Philosophieren Kinder zum Denken, Sprechen und demokratischen Handeln befähigt

„Gibt es einen Gott?“ „Was ist gut, was ist böse?“ „Gibt es nur eine Welt?“ Kinder haben viele Fragen, bei denen es sich oft um anspruchsvolle philosophische Überlegungen handelt. Warum diese in den Grundschulunterricht integriert werden sollten, und warum sie auch einen wichtigen Beitrag zur Sprachbildung und zur Demokratiebildung leisten, erklärt Eva Stollreiter in unserem Gespräch. Die Philosophin hat jetzt bei Cornelsen das Praxishandbuch „Sprachbildung durch Philosophieren“ veröffentlicht.

Person mit Zopf sitzt vor einem Tisch, hält Papier in der Hand. Vier Personen im Hintergrund.
Bild: Shutterstock.com/Anastassiya Bezhekeneva

Frau Stollreiter, was bedeutet eigentlich Philosophieren in der Grundschule?

Eva Stollreiter: Philosophieren mit Kindern in der Grundschule bedeutet, mit Kindern über philosophische Fragen und Themen, auf die es keine abschließende Antwort gibt, in Austausch zu gehen. Es geht darum, die Kinder mit Methoden der Philosophiedidaktik zum Denken und Argumentieren anzuregen. Was auch im Vordergrund steht, ist der soziale Prozess. Philosophieren in der Grundschule ist ein gemeinschaftlicher Prozess, in den sich die Kinder begeben, begleitet von der Lehrkraft.
 

Welche Themen stehen da im Vordergrund, beziehungsweise welche Themen sind den Kindern wichtig?

Eva Stollreiter: „Was ist Freundschaft?“ Das ist zum Beispiel eine Frage, die Kinder sehr früh schon beschäftigt. Oder auch die Frage nach dem Tod, die Frage nach Gerechtigkeit, aber auch Fragen wie „Wer bin ich?“, „Was ist gut, was ist böse?“, „Gibt es Gott?“, „Was war am Anfang?“ oder „Was kommt hinter den Grenzen des Universums?“. Gestern hatte ich ein spannendes Gespräch mit Kindern einer sechsten Klasse, die sich die Frage gestellt hatten, ob es mehrere Welten gibt. Die Kinder haben zunächst ganz viele Welten zusammengetragen, von denen sie sagen würden, dass es sie gibt. Die Traumwelt, die Realität, die Unterwasserwelt, die Welt des Waldes, der Tiere, die Welt in Computerspielen, in Büchern und so weiter. Oder die Welt des Todes. Alles ganz unterschiedliche Welten, die manchmal auch davon abhängen, was man selbst glaubt. Zugleich kamen wir darauf, dass in der Frage „Gibt es mehrere Welten?“ noch etwas anderes steckt, nämlich die Frage danach, ob es unsere Welt noch einmal gibt. Was ist die Welt, wenn man die Frage so versteht? „Die Erde“, haben dann einige gesagt, „das Universum ist die Welt“, haben andere gesagt. Der Begriff der Welt hat also an Kontur gewonnen, weil wir im Gespräch festgestellt haben, dass er sich auf unterschiedliche Dinge beziehen kann. Die Antwort auf die Ausgangsfrage war dann „Ja, es gibt mehrere Welten, wenn man Welt als eine Art Bezugssystem versteht. Aber ob es eine Welt wie die unsrige noch einmal gibt, das wissen wir nicht.“

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Bild: Gestaltung der Icons: Stan Hema, Berlin 2017/2018

Eva Stollreiter

Das Wichtigste beim Philosophieren sind die Fragen

Kann man auch etwas falsch machen, wenn man mit Kindern philosophiert?

Eva Stollreiter: Ja. Denn das Ausschlaggebende beim Philosophieren ist die Haltung. Ich muss als Moderatorin da sein, um das Denken der Kinder anzuregen und sie miteinander in Austausch zu bringen. Dabei darf mein eigenes Wissen keine Rolle spielen und auch meine eigenen Antworten nicht, die ich wahrscheinlich habe. Das Wichtigste beim Philosophieren sind die Fragen. Die Fragen, die ich den Kindern stelle, damit sie ihre eigenen Antworten entwickeln können, nicht meine Antworten.

Die Sprachbildung erfolgt en passant

Ihr Praxishandbuch heißt „Sprachbildung durch Philosophieren“. Ist Sprachbildung nicht eigentlich ein Thema für den Deutschunterricht?

Eva Stollreiter: Das eine schließt das andere nicht aus. Ich kann das Philosophieren vortrefflich in den Deutschunterricht integrieren, wie überhaupt in alle möglichen Fächer. Philosophieren als Sprachbildung ist eine bedeutungsfokussierte Form der Sprachbildung. Das heißt, ich vermittle dabei nicht Wissen über Sprache an Kinder, über grammatische Strukturen zum Beispiel, sondern die Sprachbildung erfolgt en passant, indem die Kinder miteinander ins Gespräch gehen und bestimmte sprachliche Strukturen nutzen. Das Philosophieren regt dazu an, sie zu verwenden. Oft sind die Zusammenhänge, die Gedanken dabei so komplex, dass auch die sprachlichen Strukturen, die man nutzen muss, um sie auszudrücken, verhältnismäßig komplex und anspruchsvoll sind. Aber weil sich die Kinder für die Themen so intensiv interessieren, da es ihre eigenen Themen sind, sind sie auch sehr motiviert, diese sprachlichen Strukturen zu benutzen.

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„Es ist erwiesen, dass das Philosophieren zur Demokratiebildung beiträgt.“

Um welche sprachlichen Strukturen geht es konkret?

Eva Stollreiter: Wenn ich zum Beispiel Kinder mit einer Frage der Form „Was wäre, wenn…?“ zum Spekulieren einlade – also zu einem Gedankenexperiment –, dann kommen sie ins Gespräch darüber und benutzen das Konditional, den Konjunktiv und so weiter. Das betrifft auch Kinder, die sich sonst kaum am Unterricht beteiligen. Das höre ich immer wieder von Lehrkräften. Die Kinder lernen aber auch bestimmte Kommunikationsfähigkeiten, also Möglichkeiten, zu debattieren, abzuwägen, sich zu verhalten gegenüber dem anderen Kind oder den anderen Kindern. Sprachbildung durch Philosophieren ist auch Gesprächsbildung. Empirische Erhebungen zeigen, dass es sowohl Effekte auf der individuellen Ebene als auch auf der kollektiven Ebene hat. Dass Kinder beispielsweise, wenn sie über einen längeren Zeitraum hinweg miteinander philosophieren, mit der Vielfalt an Meinungen in der Gruppe anders umgehen oder dass sie mehr argumentieren, dass sie sich stärker beteiligen oder dass ihre Darlegungen umfangreicher werden.
 

Das ist ja gerade heutzutage sehr wichtig.

Eva Stollreiter: Genau. Es ist erwiesen, dass das Philosophieren zur Demokratiebildung beiträgt. Philosophieren hat gewaltpräventive Effekte. Das ist inzwischen belegt und leuchtet auch unmittelbar ein. Wenn ich in der Lage bin, mich auf argumentativer Ebene im Konflikt auszutauschen, dann erleichtert das natürlich das Lösen von Konflikten, ohne dass ich aggressiv oder gar handgreiflich werden muss.
 

Das Fach Philosophie gibt es ja längst nicht an allen Grundschulen. Wie kann ich als Lehrkraft das Philosophieren in den Unterricht integrieren?

Eva Stollreiter: Das Philosophieren fördert ja auch das fachliche Lernen, weil es Zugänge zu Themen öffnet, die der Rahmenlehrplan nicht unbedingt vorsieht. Zum Beispiel die Frage „Was ist die letzte Zahl?“ stellen Kinder immer wieder, wenn man sie nach ihren Fragen fragt. Für den Mathematikunterricht eine spannende Frage. Die Frage: Was ist die Welt? kann ich genauso im Erdkundeunterricht wie im Deutschunterricht stellen. Begriffsarbeit ist fächerübergreifend möglich. Das bedeutet, ich habe die Möglichkeit, die philosophiedidaktischen Methoden in verschiedene Kontexte zu integrieren.
 

Und mit ihrem Buch bieten sie Ideen, Anregungen oder vielleicht sogar noch mehr?

Eva Stollreiter: Es ist mir ganz wichtig, dass das Buch unmittelbar in die Praxis führt. Deswegen gibt es mehr als 50 Impulse in dem Buch, die unterschiedlich umfangreich sind, aber allesamt darauf abzielen, Kinder miteinander ins Denken und ins Gespräch zu bringen. Es gibt auch Impulse dazu, wie ich überhaupt an die Fragen der Kinder komme. Woher weiß ich denn, was die Kinder in meiner Klasse beschäftigt? Dafür gibt es kleine Methoden, wie einen Fragenbriefkasten zu installieren oder andere Wege, um die Fragen der Kinder zu sammeln und diese Fragen dann zu thematisieren.
 

Das heißt aber, Sie präsentieren keine konkreten Unterrichtseinheiten?

Eva Stollreiter: Eigentlich doch. Zum einen gibt es Impulse, die umfassender ausfallen und die ganze Unterrichtsstunde betreffen, zum anderen gibt es den Planungsrahmen, den ich auf das Philosophieren zugespitzt habe und mit dem Lehrkräfte den Unterricht vorbereiten können. Bei der Behandlung eines bestimmten Themas können sie im Vorhinein überlegen, welche philosophischen Fragen sie gern einbauen möchten. Mit diesem Planungsrahmen können Lehrkräfte das Philosophieren beziehungsweise die Sprachbildung durch Philosophieren in Bezug auf die ganze Unterrichtsstunde vorbereiten. Ich stelle in dem Buch aber auch weitere, oft bewährte Verfahren vor wie die Arbeit mit der Tabelle zu den Schlüsselbegriffen. Sie zeigt, wie Lehrkräfte sich auf ein spezielles Thema vorbereiten können: Sie sammeln zum Beispiel philosophische Zitate oder schauen, welche anderen Begriffe etwas mit diesem Begriff zu tun haben. Lehrkräfte finden in dem Buch einen ausführlichen Abschnitt zur Unterrichtsplanung.

Zur Person

Eva Stollreiter ist Philosophin und Literaturwissenschaftlerin (M. A.). Seit 2012 ist sie Vorsitzende des Berliner Vereins Was denkst du? Kinder und Jugendliche philosophieren e. V. Zu ihren Schwerpunkten zählen die schulische Bildungsarbeit und das Philosophieren mit Literatur. Sie ist außerdem zertifizierte Mediatorin.

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